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Anmerkungen zu einer Geschichtsklitterung

Der bayerische Innenminister Dr. Bruno Merk hat mit der Broschüre „Schutz für Verfassung, Staat, Gesellschaft" (September 1976) einen wichtigen Beitrag zur Politischen Bildung· vorgelegt.

Wichtig deshalb, weil hier dem Lehrer ein - durch die ASchO sicher nicht behindertes - Dokument in die Hand gegeben ist, an dem er „Geschichtsklitterung für politische Zwecke" eindrucksvoll erläutern kann. Und das ist unbestritten ein Lernziel, das den bayerischen Schülern nicht vorenthalten werden sollte.

Wir wollen an Hand des Kapitels „Die Lehren von Weimar" (S. 10 ff.) nun keine Unterrichtseinheit entwickeln (eine entsprechend ausgearbeitete Musterstunde dokumentieren wir natürlich gerne!), sondern nur aufzeigen, wie unter der seriös untertreibenden Formulierung, ,,einige Argumente der Vernunft und der Verantwortung" gegen die ,,Einseitigkeit der augenblicklichen Diskussion" (um die Berufsverbote) (S. 4) ins Feld zu führen, Geschichte so hingebogen werden kann, daß sie paßt.

Sie muß passen, um das gängige Argument der Befürworter der Berufsverbotspraxis im öffentlichen Dienst, die „Erfahrung aus der Weimarer Republik" (S. 10), heute historisch zu rechtfertigen.

Diese Erfahrung besteht nach Merk darin, daß die „erste deutsche Republik nicht zuletzt an der Toleranz gegenüber ihren intoleranten Feinden von rechts und links zugrunde gegangen" ist, daß es ihr nicht gelang, ,,die Unterwanderung des Beamtenapparates durch die Feinde der Republik zu verhindern" (S. 10).

Merk bedient sich hier der einfachen Methode, einige Details herauszuheben, wesentliche zusammenhänge aber unberücksichtigt zu lassen.

Er erwähnt das ,Republikschutzgesetz' (begründet mit „kommunistischen Aktivitäten" und „Gewalttaten rechtsradikaler Gruppen" - S. 10) vom Juli 1922, das zugleich erlassene Gesetz über die Pflichten der Beamten zum Schutz der Republik und springt dann sogleich ins Jahr 1930. Hier wird der Beschluß des Preußischen Staatsministeriums vom Juni 1930 ausführlich zitiert, der die Mitgliedschaft und Unterstützung für die NSDAP und die KPD allen Beamten verbietet.

Sodann wird die ständige Rechtsprechung beklagt (Preußisches Oberverwaltungsgericht, Entscheidung vom 18. 8. 1932), die mit der Begründung, daß sie an Hitlers Erklärung, seine Ziele nur noch auf streng legalem Weg verfolgen zu wollen, nicht vorbeigehen könne, die Revision des preußischen Beschlusses erzwang.

Ohne auf den Charakter von Justiz und Verwaltung in der Weimarer Republik einzugehen, ohne auf die besondere Rolle Bayerns und seine unrühmliche Tradition in der Frage der Republikschutzgesetzgebung und der Abwehr reaktionärer und faschistischer Kräfte hinzuweisen, ohne die nationalsozialistische „Reinigung" des öffentlichen Dienstes durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auch nur zu erwähnen, folgert Merk, daß die „lebensfremde und unpraktikable Unterscheidung zwischen dem erlaubten Bekenntnis zu einer staatsfeindlichen revolutionären Partei und der verbotenen Betätigung für sie . .. letztlich den Versuch zum Scheitern verurteilt (habe), die Feinde der Weimarer Republik vom öffentlichen Dienst fernzuhalten" (S. 11/12).

Bei dieser Geschichtsdeutung, die von wesentlichen Tatsachen der historischen Entwicklung der Weimarer Republik keine Kenntnis nimmt, ist der Vorwurf der Geschichtsklitterung durch wenige Hinweise zu belegen.

Wenn Merk in der Unterwanderung des öffentlichen Dienstes in der Weimarer Republik durch „Radikale" einen Grund für das Scheitern der ersten deutschen Republik erkennen will, so sollte dazu vermerkt werden, daß im Gegenteil eine konsequente demokratische Erneuerung des Beamtenapparates während der gesamten 15jährigen Geschichte der Weimarer Republik nicht gelang. Die Beamtenschaft in Justiz und Verwaltung (und in weiten Teilen insbesondere des höheren Bildungswesens) verharrte in vordemokratischen Positionen und stand stets in latenter Opposition zur parlamentarischen Demokratie. (Vgl. Bracher in: Duve, Kopitzsch [Hrsg], Weimar ist kein Argument, rororo aktuell 1976, S. 99.)

Wilhelm Hoegner hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß in der Justiz Demokraten oder gar Sozialdemokraten eine Seltenheit waren, daß „das politische Bekenntnis des übergroßen Teils der Justizbürokratie im Norden wie im Süden des Reiches deutschnational war" (ebenda, s. 35).

Was Merk als Toleranz gegen rechts und links ausgibt, liest sich bei Hoegner als Einseitigkeit und politische Eindeutigkeit der Justiz und der hinter ihr stehenden bürgerlichen Kreise, die nicht bereit waren, antirepublikanische Aktionen bis hin zu Aufruhr und Gewalt von rechts konsequent zu ahnden.

Gegen alle Versuche, die auch nach der Novemberrevolution von 1918 bestehende ökonomisch-politische Dominanz der herrschenden Kapitalgruppen (die maßgeblich zu Hitlers Reputation und schließlicher Machtübernahme beitrugen) aufzuheben, ging die Justiz dagegen massiv vor.

Der Mörder des bayerischen Ministerpräsidenten Eisner, Graf Arco, wurde zwar zunächst zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslänglicher Festungshaft begnadigt und nach wenigen Jahren entlassen - und in Bayern als bayerischer Nationalheld gefeiert. und während man die Beteiligung in der bayerischen Räterepublik mit einer Todesstrafe (abgesehen von den zahlreichen Erschießungen bei und unmittelbar nach der Niederwerfung!) und 6000 Jahren Freiheitsstrafe ahndete (von der 2/3 verbüßt wurde), für die Beteiligung am Kapp-Putsch das Verfahren entweder durch Amnestie oder durch Einstellung beendet. Von den 775 am Kapp-Putsch beteiligten Offizieren wurde keiner belangt, von den Führern des Putsches wurde als einziger der frühere Polizeipräsident Jagow mit fünf Jahren Festung bestraft (Zahlen zit. nach: W. Hoegner, ebenda, S. 62/63).

Daß unter diesen politischen Umständen und angesichts von Inflation und später der Weltwirtschaftskrise, die die ökonomische Polarisierung vorantrieben und zu Verelendung und Existenzunsicherheit führten, große Teile insbesondere der Arbeiterschaft nur ein distanziertes Verhältnis zur Republik hatten, wird unter diesen Bedingungen verständlich.

Merk geht auch nicht auf die Rolle ein, die die „Ordnungszelle Bayern" unter der politischen Führung der Bayerischen Volkspartei, auf deren Tradition sich die CSU zu Recht berufen kann, in der Weimarer Republik ausübte.

Im Gefolge des Kapp-Putsches wurde in Bayern die sozialdemokratische Minderheitsregierung durch eine bürgerliche Koalition unter der Führung der BVP ersetzt, die ein Bündnis der weiß-blauen mit der schwarz-weiß-roten Opposition darstellte, die trotz unterschiedlicher Ziele einig war in der Negation der Republik.

Schon nach dem Erzberger-Mord verweigerte die bayerische Regierung zunächst den Vollzug zweier Notverordnungen des Reiches zur Eindämmung der Hetze verfassungsfeindlicher Presseorgane und Parteiorganisationen; ,.gegen die Verordnung zum Schutze der Republik (nach dem Rathenau-Mord) wandte sich Bayern sofort aufs schärfste mit der Behauptung, daß in die Rechte der Länder eingegriffen sei. Während das übrige Deutschland vor Wut und Empörung über die Freveltat aufschrie, verschanzte sich Bayern hinter spitzfindigen Fragen der Zuständigkeit." (W. Hoegner, ebenda, S. 37.)

Wenn Merk der Rechtsprechung die Schuld am Scheitern der Republikschutzgesetzgebung zuweist, so läßt er völlig das gegen den verfassungsmäßigen Bestand der Weimarer Republik gerichtete Votum der bayerischen Staatsregierung außer acht. Er erwähnt nicht die zeitweilige stillschweigende Zusammenarbeit prominenter BVP-Politiker mit Hitler und den weitgehenden Handlungsspielraum für rechtsextreme Freikorps und Organisationen, der Hitler ermutigte, bereits 1923 nach der ganzen Macht zu greifen.

In seiner Geschichtsbetrachtung übergeht Merk schließlich vollständig die Entlassung demokratischer Beamter durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 und die Haltung der überwiegenden Mehrheit der Beamtenschaft zur Liquidierung der demokratischen Ordnung.

Mit diesem Gesetz schuf sich das nationalsozialistische Regime eine Handhabe, die noch verbliebenen „unzuverlässigen" Elemente zu entfernen und krönte damit eine Tradition, den öffentlichen Dienst gegen demokratisch gesinnte Beamte abzuschotten. Unter dem Alibi parteipolitischer Neutralität, mit dem sich die Beamtenschaft stets gegen eine Demokratisierung gewehrt hatte, stellte sie sich nun der faschistischen Diktatur zur Verfügung.

Zieht man diese für das Verständnis der Geschichte der Weimarer Republik wesentlichen zusammenhänge in Betracht, so wird Merks Geschichtsdeutung in doppelter Weise fragwürdig: richtig ist, daß „Radikale im öffentlichen Dienst" wesentlich zum Scheitern der ersten deutschen Republik beigetragen haben, allerdings anders, als Merk dies sieht. Nicht die „Unterwanderer", sondern die ,etablierte' Beamtenschaft in Justiz und Verwaltung machte aus ihrer antirepublikanischen Gesinnung kein Hehl. Getragen auch von der antirepublikanischen und antidemokratischen Politik rechtsgerichteter Landesregierungen (besonders Bayerns) haben sie wesentlich dazu geholfen, die demokratischen Strukturen zu unterhöhlen.

Wenn Merk die Berufsverbotspraxis heute mit den Erfahrungen von Weimar zu begründen sucht, so sollten die politischen Dimensionen dieses historischen Vergleiches deutlich gemacht werden. Die Abschließung von Justiz und Verwaltung vor demokratischen Kräften, die ihren gravierendsten Abschluß mit der „Reinigung" des öffentlichen Dienstes durch die Nationalsozialisten fand, ist von der Berufsverbotspraxis heute im Grundsätzlichen nicht mehr zu unterscheiden. Damals wie heute werden diejenigen, die sich auf Geist und Buchstaben der Verfassung berufen können, die sich für eine umfassende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche einsetzen, vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen und in ihrer beruflichen Existenz zerstört.

Erst auf diese Weise gewinnt der historische Vergleich seine Bedeutung. Und die Lehre von Weimar „wehret den Anfängen" gilt heute vor allem für die, an die Alfred Grosser die abschließende Frage stellt: „Denn wenn eine Inquisition einmal begonnen hat, wenn sie anfängt, eine neue Furcht zu verbreiten, wer kann da wissen, wo und bei wem sie stehen bleibt?" (Grosser, ebenda, S. 13.)

H. K.