»Papa, welcher Buchstabe ist eigentlich dein Lieblingsbuchstabe?« – fragte ein circa achtjähriger Junge wie selbstverständlich seinen Vater beim Aussteigen aus der Straßenbahn, mit der ich letztens zur Redaktionssitzung fuhr. Die Antwort des Vaters bekam ich leider nicht mehr mit. Aber ich ertappte mich bei dem Gedanken: Ich habe keinen Lieblingsbuchstaben! Lesen bedeutet für mich vor allem Informationsaufnahme. Ich will wissen, wo was warum passiert und wie dies einzuordnen ist. Circa 6,2 Millionen Erwachsenen in Deutschland bleibt dieser Weg der Orientierung in einer immer komplizierter werdenden Welt verschlossen. Die Standardsprache mit ihren komplexen Strukturen ist für sie (noch) nicht zugänglich. Ihre Lese- und Schreibkompetenzen reichen »für eine volle berufliche, gesellschaftliche und politische Teilhabe« nicht aus, berichtete die Süddeutsche Zeitung am 7. Mai 2019 und verwies damit auf die zweite repräsentative Studie »Leo – Leben mit geringer Literalität«. Von diesen 6,2 Millionen Menschen sprechen 53 Prozent Deutsch als Muttersprache. Und ein weiterer Hinweis zu den Zahlen: Geflüchtete Menschen, die aus politischen Gründen ihre Wohnung nicht frei wählen dürfen, konnten an der Studie nicht teilnehmen. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen erwartungsgemäß, dass Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können, in der Regel zu den Verlierer*innen der Gesellschaft zählen. So arbeiten sie meist im Niedriglohnsektor.
Mit der zunehmenden Digitalisierung wird sich ihre Situation noch verschärfen: Bankgeschäfte, Behördengänge, der Kauf einer Fahrkarte etc. werden für sie künftig eine noch größere, exkludierende Hürde darstellen, auch weil Menschen, die am Schalter weiterhelfen könnten, als unrentabel erachtet und entlassen werden. Zwei Drittel der Menschen mit Lese- und Schreibproblemen haben zudem große Schwierigkeiten, politische Fragen zu verstehen und einzuschätzen, belegt die oben genannte Studie. Ein Ergebnis, das eigentlich auf der Hand liegt. Texte in Leichter oder Einfacher Sprache ermöglichen auch ihnen die politische Teilhabe und wecken darüber hinaus die Freude am Lesen und Schreiben. Die Organisation »Gemeinsam für Menschenrechte & Demokratie « hat dies verstanden: Ihren Aufruf zur Demo »Ein Europa für alle – deine Stimme gegen Nationalismus«, die am 19.5. stattfand, veröffentlichten sie nicht nur in Spanisch, Persisch, Englisch, Französisch, Russisch und Arabisch. Er erschien auch in »Leichtem Deutsch«.