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Corona

Care-Politiken unter Covid 19

Ein Zwischenruf aus dem Vorstandsbereich Frauenpolitik der GEW.

Die Corona-Pandemie mitsamt ihren Folgen führt uns wie in einer Nussschale vor Augen, an welchen Stellen der öffentlichen Daseinsvorsorge Verbesserungen längst ausstehen. Und warum es sich lohnt, für bessere Arbeitsbedingungen im Bildungsbereich gewerkschaftlich einzutreten.

Als politisch aktive Frauen* jonglieren wir mit Bezeichnungen wie „gesellschaftlich notwendiger Reproduktionsarbeit“. Wir sprechen auch gerne von Care-Arbeit (zu Deutsch: ‚Sorgetätigkeiten‘, bezahlt und unbezahlt). Jetzt gehören außerdem die „systemrelevanten Berufe“ zu unserem Sprachjargon.

Systemrelevante Berufe haben es in sich. Ein maßgeblicher Teil davon hat einen Frauenanteil von über 70 % (Stand DIW: 19. März 2020), in Bereichen wie der Pflege, des Einzelhandels oder eben der Bildung in Erziehungseinrichtungen und Schulen. Das Erziehungspersonal in Kindergärten und Vorschulen ist sogar zu 93% weiblich. Kennzeichnend für diese Bereiche ist die niedrige Bezahlung und der Ruf nach finanzieller und gesellschaftlicher Aufwertung. Außerdem arbeiten Frauen* oft in Teilzeit – das drückt die Lohnersatzleistungen, zum Beispiel beim Kurzarbeitergeld, und wird verstärkt durch die von vielen Frauen* gewählte Steuerklasse V. Kurzum: Frauen* sind die Haupttragenden der Krise.

Der erzwungene Rückzug vieler Menschen ins Private hat für verschiedene Gruppen sehr unterschiedliche Konsequenzen. Hier nur einige Stichworte: Sexualisierte häusliche Gewalt, reproduktive Selbstbestimmung, isolierte ältere Menschen, sozial benachteiligte Familien, wohnungslose Menschen, geflüchtete LSBTI*, Migrant*innen in der Pflege, illegalisierte Menschen ohne Zugang zum Gesundheitssystem, Fachkräftemangel. Es besteht die Gefahr gesellschaftliche Machtgefälle zu verstärken und soziale Spaltungen zu vergrößern.

Das sind Entwicklungen, die wir aus gewerkschaftlicher und feministischer Perspektive einordnen.

 

Neues aus der Care-Krise – oder doch eher Altbekanntes?

Zunächst einmal gibt es systemrelevante Bereiche, die sind überhaupt nicht als solche anerkannt! An erster Stelle steht hier die ganze unbezahlte Sorgearbeit.

Die Schließung von Kitas und Schulen, kombiniert mit Home-Office, macht die doppelte Entgrenzung Sorgeleistender überdeutlich. In Bildungseinrichtungen arbeiten überwiegend Frauen*. Gleichzeitig wird die Betreuungsarbeit zu Hause ebenfalls zum Großteil von Frauen* aufgefangen (laut OECD erledigen Frauen* 80% der Arbeit in Kindererziehung und Pflege von Angehörigen). Daraus ergibt sich eine mehr als ungünstige, zuweilen unmögliche, Überschneidung. Zum Beispiel für eine Wissenschaftlerin im Home-Office, die einen philosophischen Essay schreibt und gleichzeitig (vielmehr: nebenbei) ihre Kinder betreut, sowie durchs Homeschooling geleitet. Oder generell Paare mit kleinen Kindern, bei denen beide Elternteile erwerbstätig sind. Nach der Bundesregierung ist die Betreuung von Kindern im Home-Office „zumutbar“, d.h. es gibt auch keine Entgeltersatzleistung. Momentan gibt es 67% des ausgefallenen Nettoverdienstes für jene, die ohne Option auf Home-Office und Systemrelevanz ihre Kinder betreuen müssen und daher nicht erwerbsförmig arbeiten können. Gemeinsam mit dem DGB fordern wir daher eine Familiensoforthilfe für Eltern und Pflegende in der Corona-Krise. Die Entschädigungshöhe sollte auf mindestens 80% des ausgefallenen Nettoverdienstes angehoben werden. Als Eltern im Home-Office auch noch Kinder zu betreuen kann nur dann als zumutbar gelten, wenn diese mindestens 10 Jahre alt sind. Arbeiten von Zuhause aus kann für viele sorgeleistende erwerbstätige Eltern neue Freiräume zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeuten und gibt Anreize für wichtige gleichstellungsorientierte Forderungen, die individuell eingelöst werden können sollten! Das hieße, die Entscheidung über die „Zumutbarkeit“ von Arbeit im Home-Office an den Bedürfnissen von Eltern zu messen. Denn es wird dann unzumutbar, wenn kleine Kinder oder auch zu pflegende Angehörige sich nicht selbstständig beschäftigen oder versorgen können.

Es ergibt sich ein von Feministinnen* häufig angesprochenes Paradox. Die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt sind von der Arbeitskraft jener abhängig, die Sorgearbeit leisten, bezahlt und unbezahlt. Ohne sie geht es nicht. Sie sind systemrelevant – und systematisch verkannt.

Wie die Grenzen vom Privaten zum Öffentlichen (eine Grenzziehung, die über Jahre verschiedenfach von Frauen* kritisiert wurde) durch Home-Office im digitalen Zeitalter verschwimmen, bleibt jetzt neu zu bewerten. Die staatlichen Bildungseinrichtungen von der Kita über die (Ganztags-)Grundschule und den Hort bis zu den weiterführenden Schulen haben nicht nur einen Bildungsauftrag, sie stellen auch die Betreuung außerhalb der Familie sicher und ermöglichen Erwerbsarbeit für beide Elternteile.

Eine „Care-Krise“ gibt es schon seit langem, sie ist jetzt nur sichtbarer. Sie drückt sich in einem Defizit an Sorge aus, z.B. im unzureichenden Angebot an Kita- oder Ganztagsschulplätzen oder Defiziten in Krankenhäusern oder in der Pflege. Und sie ist auf die Arbeitskraft von Frauen* aus ökonomisch schwächeren Ländern angewiesen (z.B. in der 24-Stundenpflege zu Hause).

Diskriminierung verschärft sich in der Krise

Das staatlich regulierte Gesundheitssystem steht im Spannungsfeld zwischen dem Beleben der Wirtschaft und dem Wohl sogenannter Risikogruppen, darunter überwiegend ältere und erkrankte Menschen, auch jene, die sie betreuen. Eine Kritik an der Ökonomisierung des Gesundheitssystem ist an dieser Stelle dringlich. Die vermutete Lebenserwartung eines Menschen kann kein Maßstab sein, um über Leben und Tod zu entscheiden. Außerdem kann die Einschränkung von Freiheitsrechten einzelner Gruppen aufgrund des Virus auch eine Diskriminierung bedeuten. Wenn nämlich Menschen pauschal – z.B. aufgrund ihres Alters – aus dem öffentlichen Leben ferngehalten werden sollen, ohne im Einzelfall zu schauen, ob und welches Risikoprofil vorliegt. Natürlich sind Menschen, die gesundheitliche Risiken haben, zu schützen – aber eben nicht zu bevormunden.

Diskriminierungsformen, die sich verschärfen, ergeben sich auch aus den Einschränkungen der kulturellen LSBTI*-Infrastruktur. Das birgt die Gefahr der sozialen Isolation von der Community. Auch wenn das Internet Möglichkeiten zur Vernetzung offeriert, sind LSBTI*-Jugendliche in der Isolation Zuhause oft nicht geoutet und vor familiärer Diskriminierung nicht geschützt. Zudem ist die psychosoziale und medizinische Versorgung von trans* Personen stark beeinträchtigt. LSBTI* erfahren nach einer Studie des Robert Koch Instituts vom März 2020 überdurchschnittlich psychische Belastungen, welche nun verstärkt werden. Besorgniserregend ist der Blick nach Osteuropa, wo die ohnehin schon zur Disposition gestellten Rechte von LSBTI* durch die Stärkung der Exekutive weiter gefährdet werden.

Weiter geht’s

Gewerkschaftsarbeit, Gewerkschaftspolitik lebt von der Begegnung. Diese Möglichkeiten der Begegnung, des Austauschs, sind zurzeit sehr eingeschränkt. Da die Corona-Pandemie noch eine ganze Weile die Rahmenbedingungen für die GEW-Arbeit bestimmen wird, werden Schritt für Schritt gemeinsam mit den ehrenamtlichen Kolleg*innen Wege gegangen, um diese Leerstellen auszufüllen.

Fragen wie „Wer betreut zu Hause?“, „Wer in Kita oder Schule?“, „Worin verschärfen sich die bestehenden Ungleichheiten?“, usw. usf. verdienen ein feministisches Revival. Gemeinsam werden wir – der Vorstandsbereich Frauenpolitik, der Bundesfrauenausschuss, die AG LSBTI und die Projektgruppe Feministische Zeitpolitik – in den Dialog mit Gewerkschaftskolleg*innen und politischen Mitstreiter*innen gehen: kritische Themen besetzen, Problematiken in der Entwicklung artikulieren und dabei auch auf Chancen verweisen.

Care-Politiken unter Covid 19 – wir bleiben dran. Feministisch. Queer. Gewerkschaftlich. Und im Einsatz für jedes Alter.

 

Kontakt
Renate Oehler