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Paul Oestreich – ein politischer Reformpädagoge der Weimarer Republik

Es liest sich fast wie einer unserer Texte heute mit Forderungen an eine bessere Schule, wenn Paul Oestreich seine Ideen zur „Elastischen Einheitsschule“, zur „Lebensschule“ oder zur „Produktionsschule“ darlegt.

Er will eine Schule, die die Kinder länger zusammen unterrichtet, die die Eltern miteinbezieht und auch die Betreuung der Kleinkinder umfasst, eine Ganztagsschule und diese am liebsten in Form einer Schulsiedlung. Diese Schule soll demokratisch aufgebaut und für alle Kinder unterschiedlicher Schichten kostenlos zu besuchen sein. Eine „Produktionsschule“, die keine „Produktionssklaverei“ bedeutet oder auf sie vorbereitet, sondern Kinder und Jugendliche zu kreativen, aktiven Menschen macht, und sie auf das Leben nach der Schule vorbereitet.

Von der Kaiserzeit in die Weimarer Republik – die Notwendigkeit einer wirklichen Schulreform

Dennoch bedeutet die Auseinandersetzung mit einem Schulreformer der Weimarer Republik mehr als sich selbst wiederzuerkennen. Oestreich ist ein Kind der Kaiserzeit. Als Sohn eines Handwerkers muss für seinen Besuch eines Realgymnasiums Schulgeld bezahlt werden, das Lehramtsstudium bedeutet für ihn den Aufstieg in eine höhere Schicht. Er denkt national, liberal und sozial gleichermaßen. Oestreich tritt Friedrich Naumanns „Nationalsozialem Verein“ bei, einer Partei, die das Kaisertum sozial reformieren will. Obwohl verbeamteter Lehrer engagiert er sich organisiert auch für die Belange der Arbeiter.

Erst der Erste Weltkrieg macht ihn zum Pazifisten. Er wird Mitglied des „Bundes Neues Vaterland“. Im Widerspruch zum deutschen Militarismus riskieren seine Mitglieder Verhaftungen und Betätigungsverbote. In seinem Grundsatzprogramm (1918) heißt es: „Der Bund Neues Vaterland ist eine Vereinigung, um ohne Verpflichtung auf ein bestimmtes Parteiprogramm an dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer Grundlage und darüber hinaus an dem großen Werke der Völkerverständigung mitzuarbeiten.“

Oestreich auf den „Schwarzen Listen“ der Bücherverbrennung

Die Organisation, die sich ab 1922 „Deutsche Liga für Menschenrechte“ nennt, stellt eine Verbindung zu zahlreichen anderen Autor*innen der „Schwarzen Listen“ von 1933 her. Paul Oestreich gehört damit während der Weimarer Republik zu einem weiten Kreis von Wissenschaftler*innen, Pädagog*innen und Politiker*innen, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen dem Lager der öffentlich auftretenden Gegner*innen der Nazipartei angehören. Ihre Bekanntheit wird sie im Mai 1933 auf die „Schwarzen Listen“ der Bücherverbrennung bringen. Viele von ihnen sind später in Haft, auf der Flucht oder werden ermordet.  Hier finden sich u. a. Kurt Eisner, der revolutionäre erste Ministerpräsident Bayerns, Emil Julius Gumbel, der Mathematiker und Verfasser von „Vier Jahre politischer Mord“ über die Ermordeten bei der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik 1919, Arthur Holitscher, der Autor des „Amerika“-Buches, das die Grundlage für Franz Kafkas „Amerika“-Roman ist, Gustav Landauer, der „Beauftragte für Volksaufklärung“ während der Bayerischen Revolution, die Pädagogin Anna Siemsen, Otto Lehmann-Rußbüldt, von 1922 bis 1926 Generalsekretär der „Deutschen Liga für Menschenrechte“, und der Schriftsteller Stefan Zweig.

„Schaffung einer neuen Gesellschaft durch eine neue Erziehung“

Oestreich wird im November 1918 SPD-Mitglied, er glaubt an die „Schaffung einer neuen Gesellschaft durch eine neue Erziehung“. Der liberale Pädagoge arbeitet im konservativen Philologenverband und gleichzeitig in der neu gegründeten „Vereinigung sozialistischer Lehrer“. Man fordert die sozialistischen Lehrer*innen auf, „alle drei Parteirichtungen zu gemeinsamer Arbeit für sozialistische Schulideale zu vereinigen“ und gründet die Zeitschrift „Die Neue Erziehung“, die später von den „Entschiedenen Schulreformern“ übernommen werden wird. Oestreich wird immer wieder aus Organisationen austreten, in andere eintreten, Ämter übernehmen und wieder abgeben. Immer tritt er für die Einigung der sozialistischen Strömungen ein. Unbeirrbar in seinen grundsätzlichen Haltungen kritisiert er deren Aufgabe in der SPD: Die Weltlichkeit der Schule, die Einheitlichkeit des Schulwesens und die Unentgeltlichkeit des Schulwesens und der Lehrmittel. Er stellt sich gegen die kompromissbereite opportunistische Realpolitik seiner Partei und lehnt angebotene Aufgaben, wie die Übernahme einer Direktorenstelle an einer Berliner Oberrealschule ab. Ein Schulreformer als Direktor mit einem reformunwilligen Kollegium sei lächerlich und schädige die Reformidee. Erst nach 1945 wird Oestreich als Schulrat in Berlin-Zehlendorf an einer Umsetzung seiner Vorstellungen arbeiten. 1921 zieht er sich aus der Parteiarbeit zurück und konzentriert sich auf die Arbeit im „Bund Entschiedener Schulreformer“, den er im September 1919 mitbegründet hat. 1931 tritt er nach der Zustimmung seiner Partei zu den Notverordnungen der Regierung aus der SPD aus.

Verwirklichung der Ideen einer neuen Schule nach 1945

Nach dem Reichstagsbrand wird Oestreich im März 1933 für zwei Monate in der Strafanstalt Berlin-Spandau inhaftiert, im Mai werden seine Bücher in den deutschen Universitätsstädten verbrannt. Im September 1933 verliert der Berliner Studienrat Oestreich seine Stellung, der „Bund Entschiedener Schulreformer“ wird aufgelöst, Paul Oestreich verschwindet für zwölf Jahre aus der Öffentlichkeit. Er versucht den „Bund Entschiedener Schulreformer“ in der Illegalität zusammenzuhalten und seine Kontakte zu antifaschistischen Kreisen in ganz Deutschland aufrechtzuerhalten. Erst 1945 wird er Mitglied der KPD, dann der SED und ist bis 1949 als Hauptschulrat in Berlin-Zehlendorf tätig. Wegen seiner SED-Mitgliedschaft wird er 1949 als Hauptschulrat in Westberlin entlassen. Er wird in Ostberlin bis 1950 als Dezernent für höhere Erziehung im Hauptschulamt des Magistrats von Großberlin weiterarbeiten und sich trotz ablehnender Haltungen aus dem Westen weiter für die Einigung der Schulreformer*innen in Ost und West engagieren. Immer bleibt er ein streitbarer Schulreformer auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten (schul)politischer Haltungen in den linken Parteien, ein Organisator unzähliger Tagungen, deren von ihm publizierten Tagungsbeiträge eine Diskussionsbereitschaft vorführen, die uns auch heute nicht fehlen darf.

(Literatur: Ellerbrock, Wolfgang: Paul Oestreich. Portrait eines politischen Pädagogen. Veröffentlichung der Max-Traeger-Stiftung Bd. 14 Hg. von Dieter Wunder. Juventa Verlag Weinheim und München 1992)

Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:

Paul Oestreich: Der Einbruch der Technik in die Pädagogik 1930

Die Technisierung der Schule Anfangs des 20. Jahrhunderts beschreibt Oestreich als „Rausch des Aufschwungs“. Die Eisenbahn mache für alle ferne Schulen erreichbar, die technischen Ausstattungen der Schulen vermitteln Jugendlichen einen wirklichen Eindruck von der modernen Industriewelt. Und dennoch sieht Oestreich in der „ökonomischen Rationalisierung“ der Schule den Grund für eine „endlose Verbesserung“. Freudig zögen Lehrkräfte in „fertige“ Schulgebäude ein, aber ihnen „war im sausenden Tempo der Erweiterungen und ‚Verbesserungen‘ damals eben noch nicht klar, was dieses „fertig“ bedeutete: Frei von Bildungs-Vitaminen, Konserven-Bildung!“ Ähnliches kann heute beobachtet werden, wenn ein „kompetenzorientierter“ Lehrplan anstatt die Gesetze der Physik und Mathematik herzuleiten und damit ein wirkliches Verständnis technischer Vorgänge zu erreichen, eine inhaltslose „Kompetenz“ als Unterrichtsziel festsetzt. Oestreich schlägt dagegen eine „Arbeitsschule“, eine „Produktionsschule“ vor, die nicht zu kapitalistischer Arbeit und Produktion hin erzieht, sondern das Lernen produktiv mit realer Arbeit verbindet. Am Ende von „Der Einbruch der Technik in die Pädagogik“ formuliert Oestreich sein „totales“, also umfassendes Verständnis von Bildung:

„Nicht ‚wie kann man den Menschen so gestalten, daß er nützlich verbraucht werden kann?‘, sondern ‚wie entwickelt man jeden Menschen zu seiner höchsten, totalitätsgebundenen Wirkung?‘ lautet die menschheitspädagogische Fragestellung. (…) Wie sind die gesellschaftlichen Umstände zu ändern und welche Verzichts- und Produktionskräfte und -wege sind von Mensch und Menschheit zu fordern, damit eine Gesamtkultur, eine Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Erfüllung für alle möglich wird?“

Paul Oestreich: Der Einbruch der Technik in die Pädagogik 1930 – Ausschnitt aus dem Originaltext

Paul Oestreich: „Der wirkliche Einfluß der Technik auf die Pädagogik“ Aus: Paul Oestreich: Der Einbruch der Technik in die Pädagogik 1930 – Ausschnitt aus dem Originaltext