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Otto Rühle (1874 – 1943) und Alice Rühle-Gerstel (1894 – 1943): In Politik und Erziehung - Der Mitmensch als Vollendung

Alice Gerstel und Otto Rühle: Moderne Frauenrechtlerin, Sozialistin, Pädagogin und Psychologin trifft auf bildungsrevisionistischen Räterepublikaner Alice Gerstel wächst in einem jüdischen Fabrikantenhaushalt in Prag auf, wo sie nach dem Besuch eines Mädchenpensionats in Dresden am Lehrer*innenseminar die Staatsprüfung für Musik ablegt. Ihr großes Interesse gilt der Literatur und den Sprachen, sie kennt Franz Werfel, Egon Erwin Kisch und andere Autor*innen ihrer Zeit. Für ihren weiteren Lebensweg entscheidend ist aber ihr Studium der Literaturwissenschaften und der Philosophie in Prag und München, wo sie als Schülerin Alfred Adlers, des Begründers der Individualpsychologie, den Rätekommunisten Otto Rühle kennenlernt, den sie 1921 heiratet.

1924 gründet sie mit ihm zusammen den Verlag „Am andern Ufer – Blätter für sozialistische Erziehung“ und veröffentlicht die „Monatsblätter für sozialistische Erziehung“. Die Grundsätze marxistischer Erziehung verbindet sie mit der Individualpsychologie. Die Fragen nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft bzw. nach dem Zusammenwirken von Erziehung und Gesellschaft werden zentrale Leitfragen ihres Schaffens. Ihre Beziehung zu ihrem Mann ist stets auch immer die einer Arbeitsgemeinschaft: Otto Rühle, dessen Namen sie nach der Eheschließung als Zweitnamen annimmt, trat bis dahin vorwiegend als radikaler Linker auf.

Bildrechte: www.alliteratus.com, Rühle-Gerstel, Ein Mensch ohne Bücher, S. 3

Als einziger neben Karl Liebknecht stimmte Otto Rühle 1915 gegen die Kriegskredite. Wegen seiner radikalen Ansichten musste er die SPD verlassen und 1919 sogar die KPD. Als Mitglied des Reichstags stellte er in seiner Rede vom 25. Oktober 1918 fest:

„Abgeordneter Rühle: Daß sich Sozialdemokraten zu der Rolle hergegeben haben, in letzter Stunde für die zusammenkrachende bürgerliche Gesellschaft noch den Nothelfer und Kugelfang zu spielen, wird von den Massen draußen ebenso als schmählicher Verrat empfunden („Sehr richtig!“ bei den Unabhängigen Sozialdemokraten), wie sie sich durch die Scheindemokratie, die vorgegaukelte Volksherrschaft genarrt und verhöhnt fühlen. Sie brauchen zu ihrer Befreiung etwas ganz anderes, nämlich die Demokratie des Sozialismus, die Republik auf der Grundlage der sozialistischen Revolution, und sie verlangen dazu in erster Linie die Abdankung des Kaisers als des Urhebers dieses Weltkrieges. (Große Unruhe. — Glocke des Präsidenten)

Präsident: Herr Abgeordneter Rühle, Sie haben die Abdankung des deutschen Kaisers verlangt mit einer Begründung, die innerlich unwahr und jeder Ehrerbietung gegen den Kaiser widerspricht. Ich rufe Sie deshalb zur Ordnung! („Bravo!“)

Abgeordneter Rühle: Der Ordnungsruf wird ihn vor dem Strafgericht nicht retten — (Große Unruhe. — Glocke des Präsidenten)“

Rühle hat sich also längst einen Namen gemacht, als er 1932, im Jahr vor der Machtübernahme, in seinem Vortrag „Grundfragen der Erziehung“ fordert, dass die sozialistische Erziehung der Herstellung einer sozialistischen Gesellschaft vorauszugehen hat. Dazu braucht es eine neue Schule, denn:

„In der alten Schule tritt der Geist der bürgerlichen Erziehung ganz rein und nackt, offiziell und brutal zutage. Die bürgerliche Klasse schuf die Schule, wie sie Fabrik, Kaserne und Gefängnis schuf. Im Grunde nur die mehrfache Variation ein und desselben Themas. Kein Zufall, daß die vier Institute schon rein äußerlich, ihrer Bauart und Einrichtung nach, noch mehr aber innerlich, in ihrem Betrieb, ihrer Organisation und Funktion, ihrem Geist und ihrer Atmosphäre eine geradezu verblüffende Übereinstimmung aufweisen. Die alte Schule ist Erziehungskaserne, Bildungsfabrik, Kindergefängnis. Ihre Mittel sind – da wie dort – Zwang, Disziplinierung, Uniformierung, Mechanisierung, Abrichtung, Unterjochung. Das Resultat ist die wehrlose, arbeits- und ausbeutungswillige, gefügige Masse in den Händen einer selbstbewußten, frech-brutalen, genußsüchtigen, mit allen Herrschaftskünsten vertrauten Besitzerkaste.“

Privatbesitz = Herrschaft = Kontrolle über die Bildung = Sicherung des Privatbesitzes

Mit dem Aufkommen des Privatbesitzes, darin sind sich die Rühles einig, erfuhr die Gesellschaft ihre Spaltung in eine das Eigentum beschützende, herrschende Klasse einerseits und in eine sozial-ökonomisch unterdrückte Klasse andererseits. Weil die herrschende Klasse den Kulturapparat bestimmt, tradiert sie die Ungleichheit über das Bildungs- und Erziehungswesen und lässt das Proletariat gerade so viel Anteil an der Kultur haben, wie es ihr, der herrschenden Klasse, nützlich ist. Diese Umstände sind für Otto Rühle und Alice Rühle-Gerstel die ökonomischen Voraussetzungen für die Notwendigkeit einer sozialen Pädagogik als „unmittelbarem Bestandteil des Klassenkampfes“.

Erziehung ist also für Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle die Befreiung des Einzelnen mit dem Ziel der Befreiung der Gesellschaft; Befreiung von der Unterdrückung aufgrund des Kapitalismus, aufgrund der bürgerlich-ökonomische Zwänge und aufgrund der Autorität des Systems unter Erhalt der Individualität in einer neuen, mitmenschlichen Gemeinschaft.

Aufgrund dieser Haltung, die in offensichtlichem Gegensatz zur nationalsozialistischen Erziehungsideologie steht, aufgrund seines biografischen Werdegangs und seines Status bleibt Otto Rühle bereits 1932 nur die Möglichkeit der Flucht. Zunächst geht er mit der nicht minder gefährdeten Alice nach Prag. 1933 zerstört die SA ihrer beider Haus in Dresden. 1935 verlässt Otto Rühle als 60-Jähriger Deutschland für immer. Er geht nach Mexiko, wo er Kontakte hat. Alice folgt ihm im darauffolgenden Jahr. Ein einfaches Leben, Postkartenmalerei unter mexikanischem Pseudonym, Gelegenheitsarbeiten und ein reger Kontakt zu Trotzki prägen ihren Alltag. Als Otto Rühle 1943 plötzlich an Herzversagen stirbt, nimmt sich seine Frau Alice Rühle-Gerstel am selben Tag das Leben.

 

Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:

Otto und Alice Rühle (Hg.): Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung.

Die Verdrängung der Schriften von Otto und Alice Rühle – auch sie standen auf der Schwarzen Liste – führte nach 1945 unter anderem dazu, dass eine sachliche Auseinandersetzung oder Fortsetzung ihrer Theorien und Ansätze ausblieben. Ihr Werk wurde vielleicht auch deshalb vornehmlich von zweifelhaften, radikalen und anarchistischen Epigon*innen und Verlagen aufgegriffen.

Otto und Alice Rühle (Hg.): Am andern Ufer. Blätter für sozialistische Erziehung. Dresden (Buchholz-Friedewald) und Leipzig, 1924-1925 Ausschnitt aus dem Originaltext

Literatur:

Otto Rühle: Rede im Reichstag (25. Oktober 1918). Aus: Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 314, Berlin 1919, S. 6270

Otto Rühle: Grundfragen der Erziehung. Ein Vortrag. Vortragsvorlage abgedruckt in: Der Pionier, Funktionärblatt der Gemeinschaft proletarischer Freidenker, 2. Jg., Nr. 15, 1932