Zum Inhalt springen

Wirkung der Förderalismus-Reform auf die Eingliederungshilfe

Matthias Anbuhl ist Leiter des Parlamentarischen Verbindungsbüros der GEW Berlin

Wer den Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung vom 11. November 2005 liest, könnte zu dem Schluss kommen, dass sich die Große Koalition in der Politik für Menschen mit Behinderungen eine Menge vorgenommen hat. Man wolle die Eingliederungshilfe weiterentwickeln, damit auch zukünftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung stehe. Dabei habe der Grundsatz »ambulant vor stationär« einen zentralen Stellenwert, steht in dem 191 Seiten starken Kontrakt der Koalitionäre schwarz auf weiß geschrieben. Noch im März vergangenen Jahres bekräftigte die Bundesregierung dieses Ziel in einer Antwort auf eine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion. Insbesondere die bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Bereichen, die Leistungserbringung aus einer Hand sowie die Einführung trägerübergreifender persönlicher Budgets stehe auf dem Programm der Großkoalitionäre, hieß es in der Drucksache 16/1059 des Deutschen Bundestages.

Doch leider sind diese schönen Zeilen im Regierungsalltag kaum das Papier wert, auf dem sie gedruckt werden. Denn noch im selben Koalitionsvertrag einigten sich CDU/CSU und SPD auf ein Vorhaben, das die bundesweite Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe konterkariert: die Föderalismus-Reform. Es war das erste Prestigeprojekt der neuen Bundesregierung, die Bund-Länder-Beziehungen wurden in der größten Verfassungsänderung seit 1949 neu geordnet. Der Haken daran: Die große Staatsreform erfolgte nach einem bestimmten Muster. Die hohe Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze im Bundesrat wird reduziert. Im Gegenzug erhalten die Länder zusätzliche Kompetenzen, vor allem in den Bereichen Bildung und Soziales.  Nicht die Qualität unseres Sozialstaats steht im Mittelpunkt, sondern die Frage, wie die Länder für ihren Machtverzicht im Bundesrat entschädigt werden.

Dieses Vorgehen hat fatale Auswirkungen auch auf die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Denn im Artikel 84 Abs. 1 des Grundgesetzes verankerten die Staatsreformer einen kleinen, aber bedeutenden Satz: »Durch Bundesgesetz dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden.«  Mit diesem vermeintlich marginalen Eingriff in die Verfassung hat sich Schwarz-Rot in Sachen Eingliederungshilfe die Hände gebunden. Denn in sämtlichen Bundesländern liegt die Eingliederungshilfe letztlich in der Hand der örtlichen oder überörtlichen Träger der Sozialhilfe. Will also die Bundesregierung wirklich die Eingliederungshilfe weiterentwickeln und den Städten und Gemeinden damit inhaltliche und vor allem finanzielle Vorgaben machen, wie im Koalitionsvertrag noch vorgesehen, müssen die Kommunen nur auf die Verfassung verweisen – und die Bundesinitiative ist hinfällig.

Die logische Konsequenz: Der Bund kann nicht mehr einen bundeseinheitlichen Leistungskatalog für die Eingliederungshilfe garantieren. Die Länder werden sich gemeinsam mit den Gemeinden diesen Politikbereich vornehmen. Und das kann durchaus negative Folgen für die Betroffenen haben. Zum einen haben die Bundesländer – insbesondere Bayern – und die Kommunen immer wieder über die zu hohen Kosten in der Sozialhilfe geklagt. Wollen sie jetzt bei der Eingliederungshilfe den Rotstift ansetzen, kann der Bund nicht mehr eingreifen. Vielleicht drohen also auch schon bald in diesem Bereich – angesichts leerer öffentlicher Kassen –  massive Kürzungen. Wenn zudem die Leistungen in der Eingliederungshilfe von Land zu Land stark variieren, wird auch die viel zitierte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland endgültig ad absurdum geführt. Die Länder haben in den Verhandlungen zur Föderalismus-Reform immer wieder betont, dass sie auch ohne Hilfe des Bundes die soziale Qualität unseres Staates sichern können. Nun müssen sie sich an diesem Maßstab messen lassen.

Doch es gibt noch eine neue Entwicklung in der bundespolitischen Debatte, eine Korrektur der Staatsreform scheint zumindest nicht ganz ausgeschlossen. Denn mittlerweile schwant auch einigen Bundespolitikern, dass die große Föderalismus-Reform – vorsichtig formuliert – suboptimal ist. Hintergrund ist der aktuelle Wettstreit zwischen den beiden Volksparteien über die kinderfreundlichste Politik. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) und die Sozialdemokraten überbieten sich momentan mit Vorschlägen zum Ausbau der frühkindlichen Bildung. Die SPD hat jüngst einen Finanzierungsvorschlag zur Schaffung neuer  Krippenplätze vorgelegt. Das Ehegatten-Splitting könnte gekappt, das Kindergeld vorerst nicht erhöht werden, die frei werdenden Milliarden sollten stattdessen in die Kitas investiert werden. Das Kuriose daran: Die frisch reformierte Verfassung macht den Koalitionären einen Strich durch die Rechnung. Denn der Bund darf den Gemeinden dank des neuen Artikels 84 GG gar kein Geld für Kindergärten geben. Dieses Dilemma hat auch Familienministerin von der Leyen erkannt. Notfalls müsse das Grundgesetz eben nochmals geändert werden, befand die Christdemokratin. Ein Vorschlag mit erfreulichen Nebenwirkungen: Nach einer neuerlichen Verfassungsänderung hätte der Bund wieder freie Hand, Vorgaben für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu machen. All die schönen Versprechungen der Großkoalitionäre könnten doch noch wahr werden. Ob es so weit kommt, ist jedoch mehr als fraglich, denn schon haben die ersten Ministerpräsidenten und Minister verkündet, dass sie einer kurzfristigen Korrektur der Föderalismus-Reform nicht zustimmen wollen. Der Leidensdruck muss folglich noch steigen.