Die "Münchner Freiheitsbibliothek" stellt sich vor
Von Mai 2022 bis Mai 2023 geben Kolleg*innen von der "Münchner Freiheitsbibliothek", einem privaten Archiv der im Mai 1933 verbrannten Bücher, monatlich ein verbranntes Werk und eine*n Autor*in an die GEW Bayern zurück.
Die drei Kolleg*innen eines Münchner Gymnasiums erklären ihr Interesse an der verbrannten Vergangenheit in einem Gespräch:
Christine: Michael, du hast nach den verbrannten Romanen und Kinderbüchern in den letzten Jahren auch die verbrannten Sach- und Fachbücher in der „Münchner Freiheitsbibliothek“ gesammelt. Wie bist du darauf gekommen?
Michael: Wir haben ja zusammen mit Schüler*innen an den Lesungen zu Wolfram Kastners „Brandfleck“ am Münchner Königsplatz teilgenommen und bald bemerkt, dass die Münchner*innen dort aus ihren Lieblingsromanen und -gedichten lesen, aus Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Anna Seghers. Diese Autor*innen stehen auf den ersten „Schwarzen Listen“, mit denen die Studenten, in München die der LMU und der TU, damals ihre Verbrennung durchgeführt haben. Nach der Liste „Schöne Literatur“ gab es aber noch andere Listen mit etwa 200 Namen wissenschaftlicher und politischer Autor*innen. Hier finden sich auch Lehrer*innen und Dozent*innen aus Schule, Hochschule und politischer, auch gewerkschaftlicher Bildungsarbeit.
Wolfgang: Die zur Verbrennung bestimmten Bücher heute in der Hand zu halten, fühlt sich an, wie Überlebende zu entdecken. Geht es dir beim Sammeln um die Aura der Bücher?
Michael: Nein, die Bücher und oft auch Broschüren wurden 1933 in einer „Aktion wider den undeutschen Geist“ gewaltsam eingesammelt, da ja eine Verbrennung in ganz Deutschland stattfinden sollte. Es ging denen, die sie verbrannten, um die Beseitigung von tatsächlich in Bibliotheken vorhandenen Büchern. Es muss deshalb auch heute ein überlebendes Buch gefunden werden, nicht ein Foto oder ein digitaler Text. Die Bücher sind bei uns in der „Münchner Freiheitsbibliothek“ wieder versammelt, so wie die Exilant*innen ihre Bücher im Mai 1934 in der „Deutschen Freiheitsbibliothek“ in Paris versammelt haben. Unsere Arbeit für die GEW Bayern wird dagegen digital auf der Homepage zu finden sein: Jeweils ein Text mit einer Hinführung zum*r Autor*in und zum Werk. Im Mai 2023 soll dann ein kleines Lesebuch erscheinen und in einer Veranstaltung vorgestellt werden.
Christine: War es schwierig, diese Bücher wiederzufinden? Kann man sie einfach so bestellen?
Michael: Bei einigen Büchern handelt es sich um einmalig erschienene Broschüren, nach denen man sehr lange suchen muss, um sie zu finden. Andere Bücher waren in den 20er-Jahren Bestseller und einige haben inzwischen großen Sammlerwert. Die Suche nach ihnen findet inzwischen fast ausschließlich im Internet statt. Interessant sind oft die Einträge früherer Eigentümer*innen in den Büchern: Da finden sich schöne Exlibris und auch Bibliotheksstempel. Beides erzählt davon, dass man Menschen mit ihrem Besitz auch ihre Bücher weggenommen hat, und davon, dass diese Texte damals aus Bibliotheksbeständen genommen, aber auch in späterer Zeit noch aussortiert wurden.
Einmal verbrannte Bücher bleiben oft verloren
Wolfgang: Es ist also nicht so, dass man die damals verbotene Literatur heute in Neuausgaben bestellen kann; sieht man von Büchern wie Marx‘ „Kapital“ oder Freuds „Einführung in die Psychoanalyse“ einmal ab. Für viele Autor*innen bedeutete die Beseitigung ihrer Bücher aus den privaten Leihbibliotheken, den Stadtbibliotheken und den Universitätsbibliotheken ein Vergessen, das bis heute anhält. Nur wenige Sachbücher wurden nach 1945 nachgedruckt, oft auch nur in der DDR, deren Bücher nach 1990 auch containerweise auf dem Müll landeten.
Michael: Es gab dann in den 60er- und 70er-Jahren auch im Westen wieder einige dieser Bücher, die auch gelesen wurden. Etwa Georg Lukacz‘ „Geschichte und Klassenbewusstsein“ oder Texte aus „Am anderen Ufer – Blätter für sozialistische Erziehung“ von Alice und Otto Rühle.
Christine: Den Studenten ging es 1933 neben der Beseitigung der Bücher auch um die Beseitigung des unerwünschten Lehrkörpers an den Universitäten. Wissenschaftliche Richtungen und politische Haltungen sollten verschwinden und z.B. Albert Einsteins Relativitätstheorie durch eine „deutsche Physik“ ersetzt werden.
Michael: Ja, der „Führer der Studentenschaft“ Karl Gengenbach lenkte zwar in seiner Rede am 10. Mai 1933 in München die Aufmerksamkeit auf die Lyrik, wenn er forderte: „Heinrich Heine ist ins Feuer zu werfen und durch Eichendorff zu ersetzen.“ In dieser Gegenüberstellung verfolgt er Heine aber auch als Juden, als Demokraten und als politischen Exilanten.
„Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ (Heinrich Heine)
Christine: Und an Universitäten, in Schulen, in Verwaltungen usw. wurde den Wissenschaftler*innen gekündigt. Sie wurden ersetzt und sind bis heute oft so gut wie vergessen, obwohl sie Bedeutendes für ihre Disziplinen erforscht und publiziert hatten. In den Schriften finde ich oft Gedanken, die wie heute geschrieben klingen. Mich fasziniert z.B. die Politikerin und Pädagogikprofessorin Anna Siemsen, der schon 1932 ihre Facultas entzogen wurde und die in die Schweiz emigrierte. Ihre Ideen zu einer freien und demokratischen Erziehung könnten auch heute so formuliert werden. Darum freue ich mich auf die Gelegenheit, hier bei der GEW Bayern einzelne Werke vorzustellen.
Wolfgang: Ich will das noch etwas weiter fassen als Christine: Warum sollte ich zum Beispiel an den österreichischen Marxisten Max Adler erinnern?
Da gibt es einerseits den fachlichen Grund: Adlers sozialphilosophische Überlegungen mögen natürlich in ihr zeitgenössisches Umfeld eingebettet sein, aber er greift Fragen auf, die auch heute aktuell sind. Wenn Adler etwa der politischen Demokratie als bürgerlichem Herrschaftsmodell, wie es sich ja im Rahmen der sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik dann entwickelt hat, die soziale Demokratie entgegenstellt, fordert er nichts weniger als den Primat der Gerechtigkeit. Wie und inwieweit kann oder soll das Soziale das Politische bestimmen? Welche erzieherischen Werte sollten in diesem Zusammenhang eine größere Rolle spielen? Das sind ja aktuelle Fragen, die leider eben oft hinter der insgesamt doch materiell-utilitaristisch ausgelegten Kompetenzorientierung zurückbleiben.
Und andererseits will ich ganz allgemein und übergeordnet nicht einsehen, dass seriösen und verdienten Denker*innen, die wertvolle Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs ihrer Zeit geleistet haben, der wissenschaftliche Nachhall verwehrt bleibt, den sie verdient hätten. Und dies hauptsächlich aus dem Grund, weil sie einem Terrorregime nicht gefallen haben. Darum müssen diese Autor*innen vielleicht nicht alle gemocht, aber doch alle gehört und dadurch irgendwie auch gerettet, womöglich wieder diskutiert, wenigstens aber nachhaltig rehabilitiert werden.
Es kann auch nicht sein, dass einen der literarische Verlust von Gedichten und Erzählungen verbrannter Autor*innen aufregt und zugleich das Verschwinden von Arbeiten aus der Soziologie oder der Biologie, der Pädagogik und der Staatswissenschaften kalt lässt.
Michael: Deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Bücher aus dem Vergessen herauszuholen, sie den heutigen Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialpädagog*innen und Wissenschaftler*innen zurückzugeben. Die Ideen einer friedlichen demokratischen Welt, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind und in der Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs verboten wurden, müssen unseren Ideen, Bildung und Erziehung zu verändern, zur Seite gestellt werden. Auch heute dürfen wir uns nicht mit den scheinbar unveränderlichen Sachzwängen abfinden, sondern müssen frei über eine andere Schule, eine andere Universität und eine andere Welt nachdenken.
von Dr. Christine Mittlmeier, Michael Schätzl, Wolfgang Winter
Lehrer*innen an einem Münchner Gymnasium
Zu den Autor*innen:
Michael R. Schätzl unterrichtet Deutsch und Latein. Er sammelt die verbrannten Bücher, initiierte die „Münchner Freiheitsbibliothek“ und verfolgt den Plan, die in den Verboten der Nationalsozialist*innen verlorengegangenen Autor*innen an die heutigen Leser*innen – auch im wissenschaftlichen Bereich – zurückzugeben: Emil Julius Gumbel den Mathematiker*innen, Anna Siemsen den Pädagog*innen, Gertrud Woker den Chemiker*innen, Alex Wedding den Jugendbuchautor*innen. Die Idee, verbrannte Texte der GEW Bayern zurückzugeben, entstand zusammen mit den Kolleg*innen der Landesfachgruppe Gymnasium.
Dr. Christine Mittlmeier unterrichtet Deutsch und Geschichte. Sie wurde mit einer Arbeit zu „Publizistik im Dienste antijüdischer Polemik“ promoviert. Schwerpunkte ihrer Bildungsarbeit sind Begegnungen mit Zeitzeug*innen und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, um Jugendliche zu ermutigen, kritische Haltungen einzunehmen und Stellung zur Vergangenheit, aber auch zur Gegenwart zu beziehen.
Wolfgang Winter unterrichtet die Fächer Geschichte, Deutsch und Biologie. Er bildet junge Referendar*innen im Fach Geschichte aus. In Lesungen aus den verbrannten Büchern erweckt er Autoren aus der Vergangenheit zum Leben und zeigt die Aktualität ihrer Argumente in gegenwärtigen Diskursen.
Die drei Lehrkräfte des Asam-Gymnasiums in München beschäftigen sich mit den verbrannten Büchern in ihrem Unterricht (Erarbeitung eines Lesebuchs zur verbrannten Jugendliteratur), in der Regionalen Lehrer*innenfortbildung (Die Aktion „Wider den undeutschen Geist“ der Münchner Studenten im Mai 1933), nehmen an Gedenkveranstaltungen teil (Lesung der verbrannten Bücher auf dem Münchner Königsplatz), erarbeiten schulische Gedenkmöglichkeiten (Leseraum der verbrannten Bücher), lesen in Stadtteilbibliotheken (Lesung aus Originalen der verbrannten Bücher aus dem Bestand der Stadtbibliothek München in der Stadtteilbibliothek Giesing), und beteiligten sich an der Gumbel-Ausstellung an der TUM im Jahr 2019 („Emil J. Gumbel (1891 - 1966): Statistiker, Pazifist, Publizist. Im Kampf gegen Extreme und für die Weimarer Republik“).