Das Problem
Ich unterrichte 27 Kinder in einer zweiten Klasse. Einige von ihnen können noch nicht lesen, viele sind motorisch unruhig. Jetzt wurde ein Kind im Rollstuhl angemeldet. Ich habe große Angst, es nicht zu schaffen. Woher bekomme ich Hilfe?
Die Rechtslage im Überblick
Bayerisches Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG)
Den Förderschulen werden sieben Förderschwerpunkte zugeordnet: Sehen, Hören, körperliche und motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, Sprache, Lernen und soziale und emotionale Entwicklung. Darüber hinaus gibt es Schulen für Kranke. Schulen für Kinder und Jugendliche mit Lernproblemen, Sprachauffälligkeiten und Verhaltensstörungen wurden zusammengefasst zu Sonderpädagogischen Förderzentren.
Schulaufnahme
»Inklusiver Unterricht ist Aufgabe aller Schulen«, sagt Art. 2 Abs. 2 des BayEUG. Bei Anmeldung an eine Förderschule sind »die Erziehungsberechtigten (...) von der Schule nachweislich über die Möglichkeiten eines gemeinsamen Unterrichts und Schullebens nach Art. 30a und 30b BayEUG zu informieren.« So steht es in der Volksschulordnung für Förderschulen (Abschnitt 2 § 28 Abs. 2 VSO-F).
Dazu führt das BayEUG aus: »Schulpflichtige mit sonderpädagogischem Förderbedarf erfüllen ihre Schulpflicht durch den Besuch der allgemeinen Schule oder der Förderschule.« (Art. 41 Abs. 1 BayEUG). Der Regelfall sollte dabei die Beschulung in offenen Klassen sein, die Förderschule kann besucht werden, sofern ein Kind einer besonderen sonderpädagogischen Förderung bedarf. Dabei entscheiden die Erziehungsberechtigten, »an welchem der im Einzelfall rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehenden schulischen Lernorte ihr Kind unterrichtet werden soll.« (Art. 41 Abs. 1 BayEUG). Absatz 5 schränkt diese Entscheidungsfreiheit ein: »Kann der individuelle sonderpädagogische Förderbedarf an der allgemeinen Schule auch unter Berücksichtigung des Gedankens der sozialen Teilhabe nach Ausschöpfung der an der Schule vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten sowie der Möglichkeit des Besuchs einer Schule mit dem Schulprofil ›Inklusion‹ nicht hinreichend gedeckt werden und
- ist die Schülerin oder der Schüler dadurch in der Entwicklung gefährdet oder
- beeinträchtigt sie oder er die Rechte von Mitgliedern der Schulgemeinschaft erheblich,
besucht die Schülerin oder der Schüler die geeignete Förderschule.« (Artikel 41, BayEUG) Gehen die Meinungen bezüglich des geeigneten Lernortes für ein Kind auseinander, entscheidet die zuständige Schulaufsichtsbehörde. Die Eltern können noch angehört werden, auch kann noch eine »ad hoc einsetzende Fachkommission« eingeschaltet werden. Diese Entscheidung kann zeitlich begrenzt ausgesprochen werden. Das weitere Vorgehen (Einholung eines sonderpädagogischen, ärztlichen oder schulpsychologischen Gutachtens, Beauftragung einer Fachkommission) regeln die Schulordnungen. (vgl. Artikel 41, BayEUG) Bei Bedarf auf sonderpädagogische Förderung ist die VSO-F die maßgebende Schulordnung.
Sonderpädagogik innerhalb der Regelschulen
Formal sollte mit der Reform des BayEUG im Jahr 2003 der Zugang zur allgemeinen Schule für die meisten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf rechtlich möglich sein. Der »bayerische Weg« will dies durch eine Vielfalt schulischer Angebote umsetzen.
Inklusion einzelner Schüler:innen
Ein Kind mit Besonderheiten besucht die zuständige Sprengelschule (bzw. die wohnortnahe Regelschule bei weiterführenden Schulen und Berufsschulen) und wird durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) der zuständigen Förderschule begleitet. Diese Begleitung kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. So kann sie vereinzelte Beratungseinheiten für Lehrkräfte bis hin zu regelmäßigen Förderstunden für das betreffende Kind umfassen. Das Schulrecht bietet eine Reihe von Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs an, wie das Aussetzen von Noten, Zeitverlängerungen bei Proben, veränderte Aufgabenstellungen ...
Kooperationsklassen
Es handelt sich um Klassen von Grund-, Mittel- sowie Berufsschulen, in denen Kinder mit einem, durch Gutachten festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet werden. Eine Kooperationsklasse an Grund- und Mittelschulen kann eingerichtet werden, wenn in der Klasse eine Gruppe von mindestens drei Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet wird (vgl. § 27 Abs. 6 GrSO (2014), § 28 Abs. 1 GrSO alt, § 36 Abs. 13 MSO (2014), § 37 Abs. 1 MSO alt). Kooperationsklassen sollen auf Anregung der Erziehungsberechtigten bei entsprechendem Bedarf mit Zustimmung der beteiligten Schulaufwandsträger und der beteiligten Schulen eingerichtet werden, »wenn dies organisatorisch, personell und sachlich möglich ist.« (Art. 30a Abs. 9 BayEUG). Das Merkmal der Kooperationsklassen ist der durchgängig gemeinsame Unterricht in allen Fächern. Die Unterrichts- und Förderangebote müssen dabei an die individuellen Bildungs- und Erziehungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler angepasst werden. Auch hier soll eine stundenweise Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste erfolgen.
Schulen mit dem »Profil Inklusion«
Schulen können auf Antrag das Schulprofil Inklusion erwerben. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Bildungs- und Erziehungsauftrags soll eine individuelle Förderung für alle Schülerinnen und Schüler im Unterricht und Schulleben realisiert werden. Die Grund- und Mittelschulen erhalten eine zusätzliche Unterstützung durch eine Lehrkraft für Sonderpädagogik mit 13 Stunden Unterrichtspflichtzeit, wenn regelmäßig zehn Schüler:innen im Förderschwerpunkt Lernen, Sprache oder emotionale und soziale Entwicklung an der Schule unterrichtet werden. Zu den 13 Stunden Sonderpädagogik kommen in der Regel noch zehn Stunden des eigenen Lehramts dazu. Rechtlich ist eine diagnostisch begründete Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, erfolgt durch den MSD, vorgesehen, aber nicht zwingend erforderlich. Die kooperierenden Lehrkräfte aus der Förderschule sollen in das Kollegium der allgemeinen Schule eingebunden werden, bleiben aber Lehrkräfte der Förderschule (Art. 30b Abs. 4 Satz 1, 1. Halbsatz BayEUG). Sie sind gehalten, den Anweisungen beider Schulleitungen Folge zu leisten. Sie müssen an den Konferenzen der Gastschule teilnehmen, haben dort aber kein Stimmrecht.
Tandemklassen
Tandemklassen können nur an Schulen mit dem »Profil Inklusion« eingerichtet werden. Es geht um das gemeinsame, regelmäßige (nicht zwingend) lernzieldifferente Lernen einer Gruppe von Schüler:innen ohne und mit sehr hohem sonderpädagogischen Förderbedarf. Eine Festlegung auf einen bestimmten Förderschwerpunkt gibt es nicht; derzeit handelt es sich häufig um Schüler:innen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Derzeit gibt es Tandemklassen nur im Grund- und Mittelschulbereich. Unterrichtet werden soll im Teamteaching durch eine Lehrkraft der allgemeinen Schule zusammen mit einer Lehrkraft für Sonderpädagogik, ggf. einer Heilpädagog:in. Der Umfang der Abordnung richtet sich nach dem Bedarf und den konkreten Umständen (z. B. unterschiedliche Stundentafeln). Der Unterricht erfolgt gemeinsam, nach Bedarf auch zeitweise getrennt nach Lerngruppen. Der Richtwert für die notwendigen Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf liegt bei sieben Schüler:innen. Häufig handelt es sich um Kinder, die mit einem Gastschulantrag an der Profilschule aufgenommen werden. Dafür ist die Zustimmung des Sachaufwandträgers der zuständigen Sprengelschule nötig. Wird diese nicht erteilt, kann, selbst wenn die Eltern dies wünschen, ihr Kind nicht in eine Tandemklasse der Gastschule aufgenommen werden.
Lernzielgleicher Unterricht ist nicht verpflichtend!
Lehrkräfte an allgemeinen Schulen können also unterschiedliche Lerninhalte anbieten.
Partnerklassen
Partnerklassen gehören organisatorisch zu einer Förderschule, haben ihr Klassenzimmer aber an einer Regelschule. Auch der umgekehrte Weg ist möglich, nämlich die Einrichtung von Partnerklassen an Förderschulen (Art. 30b Abs. 7 Nr. 2 BayEUG). Die Organisation des gemeinsamen Unterrichts liegt in der Verantwortung (und der Bereitschaft) der jeweiligen Lehrkräfte und ist nicht zwingend vorgeschrieben. Eine Reihe von Beispielen zeigt, wie gut Förder- und Regelklassen gemeinsam arbeiten können. Die Stundenzuweisung der Lehrkräfte und der Zweit- und Pflegekräfte orientiert sich allerdings an den Richtlinien der Klassen an Förderschulen. Da dies nicht immer den Anforderungen des Außenstandorts entspricht, können hier nur entweder auf Kosten der Stammschule Stunden umgelagert werden oder das pädagogische Personal vor Ort organisiert sich mit hohem persönlichem Einsatz selbst.
Mobiler Sonderpädagogischer Dienst
Lehrkräfte können über die Schulleitung Unterstützung durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst beantragen. Er wird von den Förderschulen mit den entsprechenden Förderschwerpunkten gestellt.
Seine Aufgaben werden in Art. 21 BayEUG beschrieben: »Mobile Sonderpädagogische Dienste diagnostizieren und fördern die Schüler, sie beraten Lehrkräfte, Erziehungsberechtigte und Schüler, koordinieren sonderpädagogische Förderung und führen Fortbildungen für Lehrkräfte durch.«
Gemeinsames Lernen in der Förderschule
Gemeinsamer Unterricht an der Förderschule kann in drei Formen stattfinden: in einer offenen Förderschulklasse, mit einer Partnerklasse der Regelschule in der Förderschule oder innerhalb einer Förderschule mit dem »Profil Inklusion«.
Offene Förderschulklasse
Die Öffnung einer Förderschulklasse ist möglich, wenn in der Klasse auf der Grundlage der Lehrpläne der allgemeinen Schule unterrichtet wird, die spezifische, auf den Förderschwerpunkt ausgerichtete Förderung erhalten bleibt und im Grundsatz kein Mehrbedarf an personellen oder räumlichen Ressourcen entsteht (Art. 30a Abs. 7 Nr. 3 BayEUG und § 30 VSO-F). Aufgrund dieser Einschränkungen kommt die Einrichtung einer offenen Förderschulklasse praktisch nur für Förderzentren mit den Schwerpunkten Sehen, Hören, körperliche und motorische Entwicklung, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung in Frage.
Förderschulen mit dem »Profil Inklusion«
Förderschulen können das »Profil Inklusion« entwickeln, wenn sie sich in besonderem Maße der Inklusion verpflichtet sehen (Art. 30 Abs. 3 BayEUG). Formale Kriterien für die Profilbildung sind im Bereich der Förderschulen nicht möglich, allerdings gilt es als besonders bedeutsam, den Anforderungen der UN-Konvention mit dem Anspruch inklusiver Bildung durch inklusive Schulentwicklung über die Schule hinaus gerecht zu werden. Daher soll in der Schulfamilie ein Konsens über die Leitziele einer inklusiven Schulentwicklung herrschen: »Inklusion als gelebte Normalität im gemeinsamen Leben und Lernen.« (Ringbuch Inklusion zum Nachschlagen, Teil B, Stand Juli 2015, S. 49)
Was die GEW dazu meint
Wir könnten uns darüber freuen, dass die alte GEW-Forderung nach »einer Schule für alle« nun zumindest in Ansätzen wahrgenommen wurde und Lernzieldifferenziertheit nicht mehr verboten ist. Kritisch jedoch sehen wir die Bedingungen, unter denen der »Bayerische Weg der Inklusion – Inklusion durch Kooperation« umgesetzt wird.
1. In den Eingangsklassen sitzen Kinder mit den unterschiedlichsten Vorerfahrungen, Familienhintergründen, körperlichen und geistigen Voraussetzungen.
2. Mit der Erlaubnis zur Integration ging keineswegs die entsprechende personelle und materielle Ausstattung einher. Differenzierungsmöglichkeiten sind völlig unzureichend, Geld für Material zur Binnendifferenzierung oder zur alternativen Unterrichtsgestaltung steht kaum zur Verfügung.
- Die Angebote für inklusives Lernen an Regelschulen scheinen so vielfältig, dass der Umsetzung eigentlich nichts im Wege stehen sollte. Der Teufel steckt im Detail. Im Hinblick auf die Personalausstattung der Profilschule ist eine begründete Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs geboten; genau diese Feststellung kann, wenn die allgemeine Schule ihrem Auftrag nicht gerecht werden kann oder will, nach Art. 41 Abs. 5 BayEUG die Begründung für die Überweisung an eine Förderschule liefern – auch gegen den Willen der Eltern (siehe oben).
- Die Begleitumstände an den Regelschulen mit ihren Schulgesetzen, der vorgeschriebenen Anzahl an normierten Leistungstests erschweren die Akzeptanz von Heterogenität erheblich. Wer den Normen nicht gerecht wird – durch lernzieldifferentes Lernen – wird innerhalb der Regelschule wieder zur Sonderschüler:in. Nach Brigitte Schumann wird so die Sonderschule in der allgemeinen Schule reorganisiert.
- Aufgrund der beschriebenen Bedingungen hat das Bedürfnis nach Förderschulüberwei-sungen nicht nachgelassen. Zwar können formal die Eltern über den geeigneten Lernort entscheiden, letztendlich entscheidet aber die Schulrät:in, wohl auch auf der Basis der freien Kapazitäten in den Förderschulen. Die Eltern können noch angehört werden, auch kann noch eine ad hoc einzusetzende Fachkommission eingeschaltet werden. Diese Fachkommission wird im Gesetz als unabhängig bezeichnet. Da sie aber kostenneutral arbeitet, kommen ihre Mitglieder aus dem Schulbereich und sind damit keineswegs neutral. Sollte ein Kind gegen den Willen der Eltern an eine Sonderschule überwiesen werden, können diese den Klageweg beschreiten.
- Ähnlich wie bei der Schulaufnahme kann auch eine spätere Überweisung durch ein sonderpädagogisches Gutachten eingeleitet werden. Die Erziehungsberechtigten sind von Anfang an zu »informieren und im Rahmen des Begutachtungsverfahrens anzuhören«. (Art. 41 Abs. 3 BayEUG) Dennoch sind die Hürden, wenn die Eltern gegen die Überweisung sind, hoch. Sie können, nach einem Gespräch mit den Beteiligten, eine Überprüfung des sonderpädagogischen Gutachtens verlangen. Diese Überprüfung soll durch eine überörtliche, unabhängige Fachkommission erfolgen, deren Mitglieder am bisherigen Verfahren nicht beteiligt waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass im Sinne der Eltern entschieden wird, war in der Vergangenheit nicht sehr hoch.
Vor allem aber stellen die Schulgesetze eine hohe Belastung dar. Sie schreiben normierte Leistungstests in immer größerer Anzahl vor. Wer den Normen nicht gerecht wird, wird innerhalb der Regelschule zur Sonderschüler:in abgestempelt.
Brigitte Schumann, eine renommierte Bildungsjournalistin, sagt, die Sonderschule würde so in der allgemeinen Schule »reorganisiert«. Die Akzeptanz von Heterogenität wird durch die Begleitumstände erheblich erschwert.
Tipps für die Praxis
Wenn Sie ein Kind mit Lernschwierigkeiten, mit körperlichen oder seelischen Problemen in ihrer Klasse haben, stellen Sie einen Antrag auf Hilfe durch den MSD.
Beschreiben Sie den Eltern die Situation und empfehlen Sie ihnen, bei den entsprechenden Stellen der Schulverwaltung Unterstützung einzufordern. Wenden Sie sich an die staatlichen Schulberatungsstellen mit ihren Beratungslehrkräften und Schulpsycholog:innen.
Wenden Sie sich an die Inklusionsberatung am Schulamt für Grund-, Mittel- und Förderschulen.
von Karoline Höbner
Quellen:
Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch § 1 Abs. 206 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98)
Grundschulordnung (GrSO) vom 11. September 2008 (GVBl. S. 684, BayRS 2232-2-K), zuletzt geändert durch § 3 der Verordnung vom 9. Juli 2019 (GVBl. S. 420)
Volksschulordnung-F (VSO-F) vom 11. September 2008 (GVBl. S. 731, 907, BayRS 2233-2-1-K), zuletzt geändert durch § 1 Abs. 220 der Verordnung vom 26. März 2019 (GVBl. S. 98)
https://www.km.bayern.de/epaper/Inklusion_zum_Nachschlagen/index.html
Brigitte Schumann: »Sonderpädagogisierung der allgemeinen Schulen«, Aufsatz 2015