Das Problem
Eine Kollegin, Mitte 50, Klassenleiterin einer 7. Klasse, spürt Beschwerden, deren Ursachen sie nicht nur im Stress mit den wahrlich nicht pflegeleichten Pubertierenden sieht, sondern auch in Baumaterialien und Belüftungsproblemen. Immer wieder leidet sie unter Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Augenbrennen und Atembeschwerden. Sie erinnert sich, dass vor einiger Zeit von Asbestfugen in den Wänden und Formaldehyd in den Bodenbelägen die Rede war. An einer anderen Schule hatte es aufwendige baubiologische Untersuchungen gegeben.
Die Rechtslage im Überblick
Seit 1973 gibt es das »Gesetz über Betriebsärzte, Sicherheitsingenieure und andere Fachkräfte für Arbeitssicherheit« (ASiG). Demnach hat jeder Arbeitgeber Betriebsärzt:innen und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zu bestellen. Diese sollen ihn beim Arbeitsschutz und bei der Unfallverhütung unterstützen.
Jeder Betrieb mit über 25 Beschäftigten bietet seinen Mitarbeiter:innen die Möglichkeit, Betriebsärzt:innen zurate zu ziehen. Diese haben die Aufgabe, mögliche Zusammenhänge zwischen auftretenden Symptomen und der Situation am Arbeitsplatz zu untersuchen. Bei staatlichen Lehrkräften jedoch sieht die bayerische Regierung kaum Bedarf für den Einsatz solcher Fachleute. Anders ausgedrückt: Die Kosten solcher Maßnahmen sollen offensichtlich vermieden werden!
Nach jahrzehntelanger Missachtung der gesetzlichen Vorschriften ging das Kultusministerium (KM) vor Jahren einen winzigen Schritt vorwärts. Ein Forschungsprojekt »Gesundheitsvorsorge an Schulen in Bayern« wurde installiert (KMS Az.: II.5 – 5P4007.3 – 6b.103947 vom 30.10.13). Aufgrund der auffälligen Zurückhaltung des Ministeriums bei der Bekanntmachung dieses Projekts und der geringen personellen Ausstattung (3 Stellen für Arbeitsmedizin und Arbeitssicherheit für ca. 120.000 Beschäftigte an ca. 4.500 Schulen) ist der Verdacht nahe liegend, dass bis zum angesetzten Projektende im Jahr 2016 belegt werden sollte, Lehrkräfte in Bayern bräuchten gar keinen gesetzlichen Arbeitsschutz. Besonders die skandalöse Projektbedingung – nur Schulleitungen und schwangere Kolleginnen dürften sich an die beiden Projektärzt:innen wenden – begrenzte die Zahl der infrage kommenden Ratsuchenden schon mal radikal!
Das Forschungsprojekt sollte ursprünglich 2016 abgeschlossen sein, wurde jedoch Jahr für Jahr verlängert. Erst im Januar 2021 gab das KM bekannt, dass nun das »Institut für Arbeitssicherheit an Schulen« an den zwei Standorten München und Bamberg aufgebaut werde. Die Verantwortung für den Arbeitsschutz wird weiterhin den Schulleitungen aufgebürdet, die Inanspruchnahme des Instituts durch Lehrkräfte soll auch künftig im »Dienststellenmodell«, also über die Schulleitung laufen! Ein Affront!
Die Corona-Pandemie rückte das Thema »Arbeits- und Gesundheitsschutz« noch einmal mehr in den Mittelpunkt. Nach Auffassung der GEW sind Personalratsgremien bei der Ausgestaltung von Hygieneplänen und dergleichen nach Art 75 Abs. 4 Satz 8 BayPVG in der Mitbestimmung. Handlungsgrundlage muss hier die »SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel« sein, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im August 2020 veröffentlicht wurde (https://www.baua.de/DE/Angebote/Rechtstexte-und-Technische-Regeln/Regelwerk/AR-CoV-2/pdf/AR-CoV-2.pdf?__blob=publicationFile&v=6) sowie der »SARS-CoV-2 – Schutzstandard Schule« der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (https://dguv.de/corona-bildung/schulen/index.jsp).
Was im konkreten Fall geschah
Über lange Zeit wurde auf die Jahre zurückliegenden (»historischen«) Messungen verwiesen, deren Ergebnisse unter den zulässigen Höchstwerten lagen. Die Kollegin wurde schon fast als hysterische Hypochonderin eingestuft.
Durch die Hartnäckigkeit unserer GEW-Kolleg:innen im Personalrat konnte zunächst erreicht werden, dass neue Messungen vorgenommen wurden. Diesmal unter Beachtung der Messnormen (Zeiten und Orte, Belüftungsabstände, einzuhaltende Wartezeit bis zur Messung, Dauer der Messvorgänge usw.). Über die Personalvertretung wurden die Beschäftigten aufgeklärt, dass z. B. Formaldehyd aus bestimmten Materialien (z. B. Spanplatten) an bestimmten Stellen (Schnittkanten) immer wieder »ausgast« und die Umgebungsluft kontaminiert. Durch richtige Belüftung und andere Maßnahmen (Verschließen von Schnittkanten mit geeigneten Anstrichen) kann das Problem zumindest reduziert werden.
Im erwähnten Fall wurden an der betreffenden Schule Zimmerdecken erneuert, an anderen durch Spezialanstriche kritische Stellen »versiegelt«. Abschließend wurde durch Kontrollmessungen die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen überprüft. Für alle Schulen wurden Lüftungspläne erarbeitet.
Was die GEW dazu meint
Der skandalöse Umgang mit der Arbeitskraft und Gesundheit von Lehrkräften ist weder juristisch, noch menschlich, noch »betriebswirtschaftlich« zu akzeptieren. Kolleg:innen, die einen Zusammenhang zwischen Krankheitssymptomen und physischen oder psychischen Bedingungen am Arbeitsplatz vermuten, sollten sich an Personalräte bzw. an den Rechtsschutz wenden und die Einhaltung der Arbeitsschutzgesetze solange einfordern, bis auch die Staatsregierung begreift, dass der Gesundheitsschutz auch für Lehrkräfte an staatlichen Schulen Bayerns nicht im Belieben des Dienstherrn steht.
Die GEW bzw. die GEW-Personalrät:innen bestehen darauf, dass ein den Gesetzen entsprechender Arbeits- und Gesundheitsschutz für Lehrer:innen in Bayern installiert wird. Kolleg:innen müssen verlässliche und dezentrale Strukturen vorfinden, die es ihnen ermöglichen, auf direktem Weg Kontakt zu einem Betriebsarzt oder einer Betriebsärztin und/oder einer Fachkraft für Arbeitssicherheit aufzunehmen. Arbeits- und Gesundheitsschutz muss noch viel mehr Thema in den Schulen werden. Bei der Einsetzung entsprechender Gremien (z. B. Arbeitsschutzausschuss) ist darauf zu achten, dass es dabei zu keiner zusätzlichen Arbeitsbelastung der beteiligten Kolleg:innen kommt. Entlastungen an anderer Stelle sind daher zwingend.
Eine Möglichkeit, auf eine unerträgliche Arbeitssituation aufmerksam zu machen, bietet die Gefährdungsanzeige. Diese wird schriftlich an den Arbeitgeber gestellt und zeigt an, dass eine ordnungsgemäße Erfüllung der Arbeitsleistung gefährdet ist.
Was ist eine Gefährdungsanzeige?
Sie ist der (schriftliche) Hinweis an den Dienstherrn auf eventuelle Gefährdungen der den Beschäftigten anvertrauten Kinder und Jugendlichen oder der Beschäftigten selbst durch eine vorliegende ungünstige Konstellation, z. B. durch personelle Unterbesetzung, unzureichende organisatorische Rahmenbedingungen oder mangelhafte Arbeitsbedingungen.
Gefährdungsanzeigen bieten bedingten Schutz
Beschäftigten bietet eine Gefährdungsanzeige einen bedingten Schutz vor straf-, arbeits- oder zivilrechtlichen Konsequenzen. Sie entlasten sich dadurch selbst und schützen Kinder und Jugendliche sowie die Dienststelle.
Beschäftigte sind durch das bloße Schreiben einer Gefährdungsanzeige jedoch nicht gänzlich von der Haftung befreit. Sie müssen vielmehr alle zur Verfügung stehenden organisatorischen Möglichkeiten nutzen, um eine bestehende schwierige Situation zu bewältigen. Sie müssen die volle Arbeitsleistung gemäß § 276 BGB unter Berücksichtigung der Weisungen mit der »erforderlichen Sorgfalt« erbringen. Individuelle Fehler der Beschäftigten führen immer zu einer Mithaftung. Sie dürfen dann also beispielsweise nicht »schludern« oder Vorschriften missachten, um den Arbeitsanfall bewältigen zu können, da sie sonst im Schadensfall ein »Verschulden durch Unterlassen bzw. durch Fahrlässigkeit« treffen kann.
Beispiel:
Wenn eine Lehrkraft im Zuge einer bevorstehenden Klassenfahrt durch eine Gefährdungsanzeige auf einen personellen Engpass hinweist, sollte sie diese Fahrt nicht durchführen, solange sich die Situation nicht verbessert hat. Andernfalls geht sie das Risiko ein, im Falle eines Unfalls mit dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit konfrontiert zu werden, da sie ja die drohende Gefahr gesehen hat.
Pflicht zur Darstellung einer Gefährdungssituation im Arbeitsverhältnis
Beschäftigte sind verpflichtet Gefährdungssituationen gegenüber dem Arbeitgeber anzuzeigen. Das resultiert u. a. aus den arbeitsvertraglichen Nebenpflichten (§ 611 BGB und §§ 241 Abs. 2, 242 BGB). Danach sind die Beschäftigten verpflichtet, den Arbeitgeber vor drohenden oder voraussehbaren Schäden zu bewahren bzw. vor deren Eintritt zu warnen und darüber hinaus auf z. B. organisatorische Mängel, Überschreiten der zulässigen Arbeitszeiten nach dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG) usw. aufmerksam zu machen. Des Weiteren haben Beschäftigte nach § 15 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) die Pflicht (soweit es für sie selbst möglich ist), für ihre Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit, aber auch für die ihnen anvertrauten Personen Sorge zu tragen.
Wann ist eine Gefährdungsanzeige abzugeben?
Eine Gefährdungssituation sollte angezeigt werden, wenn absehbar ist, dass aus eigener Kraft die Arbeit nicht mehr zu leisten ist, ohne Verletzungen der Dienstpflichten ausschließen zu können. Bezüglich des Zeitpunkts der Abgabe der Gefährdungsanzeige hilft auch hier wieder das Arbeitsschutzgesetz. Nach § 16 Abs. 1 ArbSchG haben die Beschäftigten die Pflicht, dem Arbeitgeber oder der zuständigen Vorgesetzten jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit unverzüglich zu melden.
Gefährdungsanzeigen aufbewahren
Zur eigenen Absicherung ist es empfehlenswert, selbst eine Kopie der Gefährdungsanzeige aufzubewahren. Darüber hinaus muss der Arbeitgeber entsprechend dafür Sorge tragen, dass die Anzeigen aufbewahrt werden. Die Anzeige dient unter Umständen als Beweis bei einem eingetretenen Schaden und damit verbundenen geltend gemachten Ansprüchen der Betroffenen. Die Gefährdungsanzeige ist eine Urkunde im Sinne des Strafgesetzbuchs und darf deshalb auch nicht ohne Einwilligung der betroffenen Beschäftigten vernichtet werden.
Wichtiger Hinweis
Wichtig vor Abgabe einer Gefährdungsanzeige: Wenden Sie sich bitte an ein Personalratsmitglied Ihres Vertrauens!
Die Gefährdungsanzeige ist ein Mittel zur Wahrnehmung der Rechte und Pflichten einzelner Beschäftigter, um sich persönlich abzusichern. Sie gewinnt enorm an Wirksamkeit, wenn mehrere Kolleg:innen gleichzeitig Anzeigen abgeben oder eine gemeinsame Anzeige unterzeichnen.
Landeshauptstadt München
Die LHM beschäftigt sowohl Betriebsärzt:innen als auch einen arbeitgeberunabhängigen »Fachdienst für Arbeitssicherheit«, den jede einzelne Lehrkraft kontaktieren kann. Die Kontaktdaten sind über das städtische Telefonbuch oder über die Personalräte erhältlich. Die beschriebenen Probleme sind aber im Wesentlichen die gleichen wie beim Freistaat Bayern, wie gerade die Corona-Krise gezeigt hat.
von Ernst Wilhelm und Johannes Schiller