Klima der Einschüchterung
3.3. Das Klima der Einschüchterung
Die politische Disziplinierung mit dem juristischen Mittel des „Radikalenerlasses" wird gestützt durch subtilere Eingriffe, die ein durchgängiges Klima der Einschüchterung und Unterdrückung schaffen. Nachstehend eine Dokumentation typischer Fälle.
3.3.1. Die Regierung von Mittelfranken fahndet nach Friedensaktivitäten
Unter dem Aktenzeichen 500-1001 a 126 hat die Regierung von Mittelfranken (Abteilungsleiter Drescher) an die staatlichen Schulämter ein Schreiben geschickt , in dem um „telefonische Meldung gebeten wird , falls Friedensaktivitäten an den Schulen registriert werden" . Dem Schreiben liegt eine „Zusammenstellung von Aktionsideen" des Kultusministeriums zugrunde (Schreiben vom 11.5. 81 , Nr. A/2 - 8/7 1 106), in der unter anderem aufgeführt werden
,,Raketenzersägen"
,,Glockenläuten der Kirchen für Frieden"
.. Wettbewerbe, z. B. für Plakat, Gedicht, Erzählung u. U. in Zusammenarbeit mit Kultusministerium ... " (sic!)
,,Gemeinsame Aktionen mit demokratischen Soldaten, bzw. vor Kasernen "
,,Aktionen gegen 'Kriegsdenkmäler' "
,, Wurfstand mit Blechbüchsen"
,, Quizveranstaltung"
„Friedenscamps; Idee: Sommerlager z.B. in der Garlstedter Heide .. .
Diese und ähnliche Aktionsvorschläge sind wohl kaum als Anregungen für die auch in Bayern immer größer werdende Friedensbewegung gedacht; sie stellen vielmehr - da ja nicht schriftliche, sondern telefonische Meldung verlangt wird – eine Aufforderung zur Denunziation dar. Das Kultusministerium geht in dieser Frage nicht repressiv, sondern mehr präventiv vor, indem es sich administrative Optionen zur flexiblen Vorwärtsverteidigung gegen Aktionen für Frieden und Abrüstung an den Schulen vorbehält, wenn die Meldungen der Schulen das Bild einer breiten Friedensbewegung in Bayern ergeben sollten
. vgl. DDS 9/81
3.3.2. Schüler sollen ihre Lehrer
überprüfen
Welche Folgen die amtlich geförderte Atmosphäre des Mißtrauens der Einschüchterung in den Köpfen selbsternannter Staatsschützer zeitigen kann, demonstrierte die Schülerunion Niederbayern. Wir zitieren einen Bericht der „Landshuter Zeitung" vom 11.6. 79:
Schüler-Union: ,,Lehrer ständig überprüfen"
,,Die Schüler haben ein Recht auf den Extremistenerlaß"
- Positionspapier anläßlich von SUBezirksausschußsitzung
in Landshut erarbeitet
Für den Bereich Schule und Ausbildung fordert die SchülerUnion deshalb eine besonders konsequente Anwendung des Extremistenbeschlusses. Die SU geht davon aus, daß zwischen dem Bildungssystem, seinen Inhalten und der Art ihrer Vermittlung einerseits und dem Staatssystem andererseits fundamentale Zusammenhänge bestehen. In der Schule werden durch die dort vermittelten Inhalte die wesentlichen Ansichten und Einstellungen des späteren Staatsbürgers zu Freiheit, Recht und Demokratie mit grundgelegt und deshalb müsse gerade die Schule als erklärtes Ziel extremistischer Unterwanderung besonders geschützt werden. Denn es sei eine unbestrittene Tatsache, daß extremistische, vornehmlich kommunistische Organisationen dies erkannt haben und nun alles daransetzen, den Klassenkampf über die Schulzimmer in die Gesellschaft zu tragen.
„Dies zu verhindern ist Aufgabe der Regelanfrage beim Verfassungsschutz, und Aufgabe der Schüler-Union ist es, dafür einzutreten," erklärte der Landshuter Kreisvorsitzende und stellv. Bezirksvorsitzende der Schüler-Union, Bernhard Will, der ein eifriger Verfechter des Extremistenerlasses und der Regelanfrage ist. Will meinte, es sei Aufgabe der Schüler-Union, Lehrmaterial und Lehrer, zumindest den Unterrichtsstil der Lehrer ständig zu überprüfen, um jegliche Art von Unterwanderung zu verhindern.
3.3.3. Nur wer immer folgsam ist, darf bayerischer Beamter werden.
3.3.3.1. Der Fall der „Weidener Sieben"
Im Februar 1979 wurden sieben Referendare am Augustinus Gymnasium in Weiden trotz guter Prüfungsergebnisse nicht in das Beamtenverhältnis auf Probe übernommen, weil sie sich gemeinsam mit allen Referendaren des Seminars geweigert hatten , an einer Zusammenkunft mit dem Ministerialbeauftragten, Oberstudiendirektor Dr. Dusch!, teilzunehmen. Ihre Weigerung hatten die Referendare mit der prekären Anstellungssituation begründet und damit, daß die Lehrprobennoten während der Anwesenheit des Ministerialbeauftragten deutlich gesunken waren.
14 der 21 Referendare hatten die notwendige Examensnote verfehlt und wurden von vorneherein nicht in den Staatsdienst übernommen.
Die 7 Prüfungsbesten sollten „in einem befristeten Angestelltenverhältnis der Nachweis der Eignung erbringen" ( der klagegegenständliche Bescheid des Kultusministeriums vom 14.2. 1979).
Der Fall der „Weidener Referendare" stieß in einer breiten Öffentlichkeit auf helle Empörung, weil die Absicht des Kultusministeriums deutlich wurde , hier wieder einmal ein Exempel zu statuieren und alle diejenigen einzuschüchtern, die nicht bereit sind, jederzeit und unter allen Umständen dienstliches Wohlverhalten zu zeigen.
Der Bayerische Landtag erwies sich trotz weitgehender Einsicht in die Rechtswidrigkeit des Vorgehens des Kultusministeriums mehrheitlich nicht in der Lage , den Kultusminister und seine untergebenen Beamten zu rechtstreuem Verhalten zu bringen.
Kultusminister Maier erklärte in der Landtagsdebatte am 25 .7. 1980 wörtlich ,, . . . denn wenn künftig jeder Widerstand gegen ganz normale Rechtsformalien und Vorschriften auch noch belohnt wird und das sich unter der jungen Lehrerschaft herumspricht, daß man ja nur an den Landtag gehen muß, um sein Recht zu erreichen, dann habe ich doch kein Instrument mehr bei der Hand .. . " . Nicht das Verhalten seiner Beamten sei zu mißbilligen, sondern gemäß der CSU-Mehrheit im kulturpolitischen Ausschuß , das Verhalten der Weidener Referendare .
Zur Aufforderung aus dem Landtag, die Referendare wie alle anderen auch ins Beamtenverhältnis zu übernehmen, erklärte der Minister: ,, . .. Hier gibt es Angestellte zweierlei Art, normale , die sich immer an die Regeln gehalten haben , die dürfen dann länger warten und es gibt diese besonderen, da beschließt der Landtag, daß die früher einzustellen sind ."
Die GEW ging für ihre Mitglieder vor Gericht und führte die Klage als Feststellungsklage weiter, obwohl die Betroffenen inzwischen zum 1.8. 1979, also ein halbes Jahr später, doch noch ins Beamtenverhältnis auf Probe übernommen worden waren. Auch das Verwaltungsgericht Regensburg bejahrte in seinem Urteil vom 24.9. 1980 ausdrücklich ein „Rehabilitierungsinteresse", ,, ... weil das Kultusministerium bei seiner Entscheidung lediglich auf die genannten Vorfälle abgestellt hat". Dadurch „hat es diesen so großes Gewicht und derart negative Bedeutung beigemessen, daß Nachwirkungen dieser Gewichtung bei künftigen Entscheidungen nicht fern liegen".
In seiner Urteilsbegründung führte das Gericht weiter aus, daß den Vorfällen am Augustinus-Gymnaisum Weiden weder eine derart gravierende Pflichtverletzung beizumessen sei, wie dies die Einstellungsbehörde getan habe , denn der „Verstoß gegen diese dienstliche Anordnung verletze . . . lediglich Randbereiche der Pflicht zum Gehorsam und eines geregelten Dienstbetriebs, da es bei der Veranstaltung lediglich darum ging, die Studienreferendare über die Einstellungsaussichten und das weitere Einstellungsverfahren zu unterrichten".
Außerdem hätte das Kultusministerium bei genauerer Prüfung, den nachwirkenden Druck der Prüfungssituation und „das Mitgefühl mit den um ihre Berufsaussichten bangenden Kollegen" berücksichtigen müssen. Vor allem aber habe das Kultusministerium in rechtswidriger Weise aus einem Einzelfall einen Eignungsmangel hergeleitet, ohne das gesamte bisherige dienstliche Verhalten „angemessen zu berücksichtigen" .
,, .. . Da aber nicht lediglich ein einzelnes Beurteilungselement zu bewerten, sondern ein prognostisches Urteil über die Persönlichkeit des Klägers zu bilden war, hätten sich dem Kultusministerium die Eignung und Erforderlichkeit eines persönlichen Eindrucks für ein abschließendes Urteil aufdrängen müssen. Das Kultusministerium hat somit den Begriff der persönlichen Eignung und die Grenzen der ihm eingeräumten Beurteilungsermächtigung verkannt und ist unter Verstoß gegen die Pflicht zur Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Der ablehnende Bescheid vom 1./ 14.2 1979 war deshalb rechtswidrig ... "
3.3.3.2. Der Fall Jonas L.
Die Angst, daß kritische Referendare, die sich für ihrer Kollegen einsetzen und ihren Seminarlehrern offen und standhaft widersprechen, mit Existenzbedrohung bestraft werden, ist weitverbreitet. Ein krasser Fall von versuchter Existenzvernichtung eines unbequemen Referendars ist das Seminargutachten, das Würzburger Seminarlehrer 1979 über Jonas L. abgaben. Trotz einer Examensnote, mit der er als Beamter auf Probe übernommen werden hätte müssen, bot ihm das Kultusministerium nur einen Angestelltenvertrag an. Grund war die Beurteilung seines „dienstlichen Verhaltens", die hier vollständig zitiert werden soll:
"
3. Dienstliches Verhalten
Herr L. hat am Lehrerberuf hohes Interesse, sein persönliches Engagement ist sehr groß; der belesene, sehr intelligente und ehrgeizige Referendar ist in den Lehrinhalten und ihrer fachwissenschaftlichen Grundlegung besonders der Fächer Deutsch und Sozialkunde sicher; in der Diskussion vermag er alle möglichen Register zu ziehen, er operiert gewandt, manchmal brillant in der Formulierung, hintersinnig bis polemisch-tückisch in der Argumentation, bleibt jedoch nahzu völlig humorlos und unempfänglich für Zwischentöne und die gegnerische Argumentation. Seine Ansichten sind 'fugendicht' und prästabilisiert. Mit Begriffen vermag er trefflich zu jonglieren, immer bereit, den Gegenüber 'gezielt mißzuverstehen' bzw. ihm auch einmal das Wort im Munde herumzudrehen. Den Seminarlehrern begegnete er nicht selten als ebenso intelligenter wie arrogant- bornierter Besserwisser. Seine Intransigenz übersteigt seine Bereitschaft zur Toleranz deutlich. In den Seminarsitzungen hat er viele fruchtbare Gesprächsansätze vereitelt und Teilnahmemöglichkeiten seiner Kollegen in unkollegialer Weise beeinträchtigt. Auf Anregungen von Seminar- und Betreuungslehrern geht er kaum ein, da er der Ansicht ist (und dies auch deutlich merken läßt), daß diese ihm kaum das Wasser reichen können. Diese Haltung ist auch seinen Arbeitsberichten zu entnehmen. Herr L. ist bereit, schwer zu arbeiten, wenn die Arbeit seinen Intentionen entspricht. Ist dies weniger der Fall, so kann man auch einmal das Gegenteil konstatieren. Eigeninitiative verwechselt er allzu leicht mit Eigenmächtigkeit, Zivilcourage mit Taktlosigkeit. Vorschriften und Lehrpläne betrachtet er oft nur unter dem Aspekt der 'Gängelei', der es zu entgehen gilt. Mitunter waren Nachlässigkeiten in der Erfüllung dienstlicher Obliegenheiten festzustellen, z. B. in der Einhaltung von Terminen oder Abgabe von Protokollen.
Sein Fortbildungsstreben ist hoch einzuschätzen, wenn auch durchaus als selektiv und nicht allen Gegenständen und Lerninhalten gleichmäßig zugewandt.
Als gewandte, kenntnisreiche, faszinierende und selbstbewußte Persönlichkeit verstand es Herr L., jüngere und gleichaltrige Kollegen in Zweigschule und Seminar in seinem Sinne zu beeinflussen, was zur Störung der Harmonie führte und ihn für ein Kollegium mehr zu einer Belastung denn Bereicherung machen kann.
Note 4 = ausreichend"
Das Urteil des Bayer. Verwaltungsgerichts Würzburg vom 22. 1. 81 über dieses Gutachten ist – in zurückhaltender Richtersprache - vernichtend; der Klage von Herrn L. wurde zwar wegen eines Verfahrensfehlers der Seminarlehrer stattgegeben, die Richter lassen aber keinen Zweifel, daß die Beurteilung auch nach materiell-rechtlichen Gesichtspunkten angreifbar war. Ihr Urteil muß denen Mut machen, die auch im bayerischen Klima der Einschüchterung nicht auf begründete Kritik, eigenständiges Denken und sachlich-hartnäckige Interessenvertretung verzichten wollen.
„Im weiteren müßte noch berücksichtigt werden, daß Sinn und Zweck einer Beurteilung im allgemeinen, einer Prüfungsbeurteilung insbesondere, darin zu sehen ist, durch ein streng objektives Urteil über die zu beurteilenden Einzelmerkmale die Prüfungsauslese zu versachlichen (vgl. VG Koblenz, ZBR 1977, 77 ). Diesem Gebot der Sachlichkeit, daß im Prüfungsrecht mit dem Gebot der Chancengleichheit verbunden ist, könnte es widersprechen, wenn ein Prüfungsausschuß sich nicht darauf beschränkt, eine wertende Erkenntnis darüber abzugeben, ob und inwieweit der Prüfling den Ausbildungsanforderungen gerecht wurde .. Äußerungen, die den Prüfling nurmehr abqualifizieren und u. U. sogar geeignet sein könnten, strafrechtliche Tatbestände auszufüllen, sind sachwidrig und müßten zu einer Beanstandung der Beurteilung führen , weil nicht auszuschließen wäre, daß sich der Prüfungsausschuß auch bei anderen Einzelwertungen - wenn auch unbewußt - von den gleichen sachwidrigen Erwägungen hat leiten lassen. Eine Prüfungsbeurteilung kann durchaus die Schwierigkeiten darstellen, denen Seminarlehrer durch Charakter und Persönlichkeit eines Studienreferendars gegenüberstanden. Es würde möglicherweise aber keine sachliche Beurteilung mehr darstellen, wenn der Prüfungsausschuß am Vorschlag des Seminarvorstandes festhaltend den Kläger „als ebenso intelligenten, wie arrogant-bornierten Besserwisser" beurteilen würde, um nur eines und zwar das hervorstechendste Beispiel zu nennen. Zum dienstlichen Verhalten des Klägers beinhaltet der Vorschlag des Seminarvorstandes eine Reihe weiterer Formulierungen, die weniger am Wort gemessen, als in den Zusammenhang, in den sie gestellt sind, dem Gebot der Sachlichkeit nicht mehr entsprechen könnten. Dies betrifft z. B. bestimmte Begriffe, die durch Anführungszeichen eine nur Eingeweihten voll verständliche Akzentuierung erfahren haben. Würde bei einer neuen Beurteilung in dieser Weise verfahren, könnte der Schluß naheliegen, daß der oder die Beurteilenden voreingenommen waren. Dies müßte dann seinerseits zur Aufhebung des neuen Prüfungszeugnisses über die zu beanstandende Beurteilung führen. "
(Bayer. Verwaltungsgericht Würzburg, Nr. W 126 I 79, 22.1. 1981)
3.3.4. Der Fall Ossig oder wie an bayerischen Schulen die Gesinnung überprüft wird Schularbeiten ans Kultusministerium geschickt
SZ. 19 12 1978
Verwirrung im Schwabacher Gymnasium/ Verfassungsschutz nicht eingeschaltet, erfahren die Eltern
SCHWABACH, 18. Dezember - Auf unbestimmte Zeit verschoben wurde eine von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) angesetzte Podiumsdiskussion. Im Mittelpunkt sollte ein Vorfall am Adam-KraftGymnasium stehen, den die Gewerkschaft trotz Erklärungen des Kultusministeriums und der Schulleitung nicht ganz aufgeklärt sieht. Es geht um eine Schulaufgabe aus dem KollegstufenLeistungskurs Geschichte und Sozialkunde mit dem Thema: ,,Deutschlandpolitik nach 1945." Die bereits korrigierten und zu den Akten gelegten Arbeiten erweckten nachträglich das Interesse des Schulleiters, Oberstudiendirektor Heinz Ossig. Der wunderte sich über einige Fragen und Antworten in diesen Schulaufgaben, die er daraufhin zur „Fachaufsicht“ an das Kultusministerium weitergab.
Aufgeschreckt durch eine Bemerkung Ossigs, daß einige der Schülerantworten „so auch in der DDR geschrieben worden sein könnten", bat der Elternbeirat das Kultusministerium schriftlich um Auskunft, ob die von Ossig angeregte Untersuchung bedeute, daß sich der Verfassungsschutz mit den Schülerarbeiten befasse. Das harte Dementi darauf kam mit Verzögerung, und auch erst, nachdem sich der Schwabacher SPD-Landtagsabgeordnete Franz Kick eingeschaltet hatte. Das Kultusministerium versicherte, die Arbeiten hätten den Schreibtisch des zuständigen Referenten zu keinem Zeitpunkt verlassen; der Verfassungsschutz sei nicht eingeschaltet worden. Sie seien lediglich mit der Bitte Ossigs entgegengenommen worden, man möge, die Vereinbarkeit der Fragen mit dem Lehrplan für die Kollegstufe überprüfen.
Der Elternbeirat gab sich zufrieden. Der GEW aber fielen einige „Ungereimtheiten" auf. Zwar sei es üblich, daß Schulaufgaben von Zeit zu Zeit erneut nachgeprüft würden, meint sie. Ungewöhnlich sei aber, daß Schulleiter Ossig mit dieser Aufgabe nicht den dafür an allen Schulen zunächst zuständigen Fachrespizienten für das Fach Geschichte und Sozialkunde betraut, sondern gleich das Kultusministerium eingeschaltet habe. Dazu sagt Ossig heute: ,,Wenn ich gewußt hätte, was das für einen Wirbel auslöst, hätte ich das so nicht gemacht." Dieser späten Einsicht des Schulleiters, der auch nicht das Gespräch mit dem in die Schußlinie geratenen Lehrer der Kollegstufe gesucht hatte, soll dem Vernehmen nach ein Votum des Personalrats der Schule zugrunde liegen, der das Vorgehen Ossigs kritisiert haben soll.
Die GEW hält auch den Erklärungen Ossigs und des Kultusministeriums, man habe die Schularbeiten nur auf ihre Übereinstimmung mit dem Lehrplan hin untersuchen wollen, einen öffentlichen Aushang im Adam-Kraft-Gymnasium entgegen, in dem der Oberstudiendirektor zu den aufgetauchten Vermutungen am 2. Oktober wie folgt Stellung nahm: ,,Bei aller Anerkennung von Artikel 5 (1) Grundgesetz war ich der Ansicht, daß manche Äußerungen in einigen Arbeiten der Klausur nicht mehr mit der Erziehungsaufgabe der Gymnasien und möglicherweise auch nicht mehr mit der Verfassung in Einklang ständen." Diese Formulierung weckte bei der Gewerkschaft den Verdacht, daß es bei der Überprüfung 'eben doch um Verfassungstreue von Lehrer und Schülern ging. Der SZ gegenüber erklärte Ossig, laut Handbuch des Philologenverbandes Geschichtslehrer, er habe sich nicht für sachkundig gefühlt, die Schulaufgabe ;zu beurteilen.
Die GEW vermutet, daß den Unwillen des CSU-Mitglieds Ossig vor allem der in der Schulaufgabe angeführte Fragenkatalog zur Ostpolitik der Bundesregierung erregt hat. Zitat in der Schulaufgabe aus einer Rede Barzels in der Bundestagsdebatte am 25. Februar 1972: ,,Es ist doch ganz klar, daß das Bündnis (NATO) und die deutsche Spaltung nur Folgen, Konsequenzen, Antworten auf die kommunistische Herausforderung sind. Wenn wir uns darüber nicht klar sind, werden wir weiterhin die falschen Dinge für Spannungsursachen halten, nämlich andere Dinge, als die Forderungen der Kommunisten, und wir sitzen am Schluß auf der falschen und schiefen Bahn." An dieses Zitat schloß sich die Prüfungsfrage an, ob Barzel wirklich klar sehe und welche Konsequenzen diese Auffassung von der Geschichte der deutschen Spaltung für eine deutsch-deutsche Entspannungspolitik habe.
Die fachliche Würdigung des Kultusministeriums zu dieser Schulaufgabe steht noch aus. Der betroffene Fachlehrer hat die GEW um Rechtsschutz gebeten, weil ihm ein Disziplinarverfahren droht. Vorwurf: Er habe die Schüler über die Weiterreichung ihrer Schulaufgaben an das Kultusministerium unterrichtet und damit das Verschwiegenheitsgebot verletzt.
3.3.5. Einschätzung
Der „Radikalenerlaß" von 1972 wurde begründet als Antwort des Staates auf die Studentenunruhen, die erste Welle des Jugendprotestes und den angekündigten „Marsch durch die Institutionen".
Seit der - im Rückblick harmlosen - Krise von 1966/67 wurde die Zeit eines stetigen, mal langsameren, mal schnelleren Wirtschaftsaufschwungs abgelöst von einer raschen Folge von Rezession und immer kürzeren Aufschwungphasen. Seit 1973 verschärfte sich die krisenhafte Entwicklung, einmündend in die schlimmste Weltwirtschaftskrise seit 1930.
Der angeblich nur vorübergehend für die Abwehr weniger ,,Verfassungsfeinde" im öffentlichen Dienst formulierte „Radikalenerlaß" entfaltete in dieser Situation voll seine Wirkung:
- Er war und ist von allen nachgeordneten Behörden einsetzbar; die Abschreckungswirkung auf Kritiker der herrschenden Politik durch demütigende Gesinnungsverhöre und offene Existenzbedrohung schlug auch dann durch, wenn Gerichte Behördenentscheidungen zugunsten der Betroffenen korrigierten.
- Er war das Signal für das Wiederaufleben einer langen, nach dem 2. Weltkrieg nur kurz unterbrochenen deutschen Tradition der Verfolgung politisch Andersdenkender und der praktizierten Intoleranz.
- Zur Bewältigung der sich verschärfenden ökonomischen und gesellschaftlichen Krise glaubten die Verantwortlichen kritiklos funktionierende Staatsdiener zu brauchen und griffen auf das vordemokratische Verständnis des treu ergebenen, für seine Alimentation zu kritiklosem Wohlverhalten verpflichteten Berufsbeamten zurück.
- Mit der Diffamierung der Linken als potentielle „Verfassungsfeinde" wurde zugleich die grundsätzliche Kritik am zunehmend gestörten Wirtschaftssystem der BRD und die systemkritische Frage nach den Ursachen der Krisenerscheinungen abgeblockt. Den Spuren einer schlimmen Tradition folgend wird der, der Mißstände kritisiert, als Verursacher der Mißstände gebrandmarkt und verfolgt.
Das Klima der Einschüchterung wurde seit 1972 immer drückender, der Kreis potentieller „Verfassungsfeinde" immer weiter gezogen. Die Kampagnen gegen die angebliche „kommunistische Unterwanderung" der Gewerkschaften, die der CSU Generalsekretär Stoiber 1979 startete, zeigte ebenso wie die Tatsache, daß auch studentische Wahlbündnisse, die sich auf die 23 Thesen des DGB zur Hochschulreform berufen, inkriminiert werden, daß auch die Gewerkschaften im DGB für reaktionäre Kräfte zum Kreis möglicher „Verfassungsfeinde" gehören .
Mittlerweile zeichnet sich eine allgemeine Entwicklung weg vom sozialen und demokratischen Rechtsstaat wie ihn das GG will, hin zum Überwachungs- und Polizistenstaat ab , der es sich zur Aufgabe macht , anstelle von Grundrechten der Bürger vor allem die Profitinteressen des Kapitals zu schützen .
In zunehmendem Maße greifen die politisch Verantwortlichen zu polizeistaatlichen Methoden , um die ökonomischen Krisenbewältigungsversuche durchzusetzen und der zunehmenden Kritik weiter Bevölkerungskreise Herr werden zu können.
Die seit Jahrzehnten ohne großen Widerstand aus der Bevölkerung betriebene Aufrüstungs- und Drohpolitik gegenüber der Sowjetunion stößt seit dem sog. ,,NATO-Doppelbeschluß" von 1979 auf wachsenden Widerstand, der sich zu einer Massenbewegung entwickelt hat. Da sie nun nicht mehr einfach zu ignorieren ist, greift man ins bekannte Arsenal: Die Friedenssehnsucht der Bevölkerung, die sich der lebensbedrohlichen Risiken der „Abschreckung" immer mehr bewußt wird, wird bestenfalls als naiv hingestellt. Abschreckungspolitik setzt ein Feindbild voraus, das es erlaubt nach der Methode „Haltet den Dieb" die Ziele der Friedensbewegung direkt als friedensgefährlich darzustellen. Dies leitet logisch zur nächsten Eskalationsstufe: Friedensfreunde gelten als Marionetten oder mindestens nützliche Idioten Moskaus, die schließlich - s. Fall Häberlein - mit dem Instrument des „Radikalenerlasses" verfolgt und ausgeschaltet werden sollen.
Die Einschüchterung politisch Andersdenkender, die Diffamierung linker Kritik und die Ausdehnung und Verfeinerung polizeistaatlicher Überwachungsmethoden schaffen natürlich weder willige Sparopfer noch aktive Aufrüster in der Bevölkerung. Sie fördern jedoch die Flucht in's private und verstärkende Atmosphäre der Angst, die entpolitisierend wirkt. Schon halten es nach einer Umfrage des Sinus Instituts 43 % der bayer. Jugendlichen für besser, keine eigene Meinung zu haben. Diese zum Schweigen gebrachte Mehrheit soll die brutalkapitalistische Bewältigung der ökonomischen Krise ebenso ermöglichen wie die Fortsetzung der militärischen Aufrüstungs- und Drohpolitik.