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„Engste Verbindung zwischen Gelehrtem und Gelebtem“:

Zur Geschichte der Politischen Bildung seit 1945

Um die Geschichte der politischen Bildung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, muss man sich kurz die der ersten Hälfte vergegenwärtigen. Etwa fragen, wie die Kriegsbegeisterung von Millionen Deutschen im Sommer 1914 möglich werden konnte. Oder warum die überwiegende Mehrheit der Deutschen bereits wenige Jahre nach dem Ende des Krieges und der Monarchie sich selbst wieder den Feinden des Friedens und der Republik auslieferten. Erst dann lassen sich die Konsequenzen nachvollziehen und beurteilen, die nach 1945 in Bezug auf die politische Bildung gezogen wurden.

Versagende Lehrer*innen, aussortierte Schüler*innen und das Ziel der Demokratisierung Deutschlands

Wenn im Folgenden von politischer Bildung die Rede ist, geht es um all jene Prozesse, die das politische Denken und Handeln von Menschen prägten und prägen. Beginnen wir mit einer Beobachtung, die Bildungsexpert*innen der US-Regierung über die Schulen machten, die sie in Deutschland, respektive in Bayern drei Jahre nach Kriegsende vorfanden. „Deutsche Lehrer leisten gute Arbeit beim Unterricht in akademischen Fächern wie Latein und Mathematik, aber die Geschichte hat gezeigt, dass sie völlig versagen, wenn es darum geht, die Jugendlichen zu lehren, wie man falsche Propheten erkennt, wie man fähige Führer auswählt, wie man an der Regierung mitarbeitet – kurz: deutsche Lehrer haben einige große Geister ausgebildet, aber nicht genug gute Staatsbürger.“i Und zum Schulsystem heißt es in dem Bericht: „Das bayerische Erziehungssystem tendiert dazu, Klassenunterschiede zu verfestigen, indem es bevorzugte Schüler am Ende des 4. Schuljahrs von der Masse abtrennt und für den Rest ihrer Erziehung separiert hält, und das in einer Weise, die mit wirklich demokratischem Lebensstil unvereinbar ist.“ii Beides, der Unterricht und das Schulsystem, musste in den Augen der Alliierten als Relikt einer Politik erscheinen, die auf die systematische Selektion von Menschen gezielt hatte, deren Kriterium bekanntlich der Wert des Menschen für die „Volksgemeinschaft“ war. In einer Ordnung, die die Achtung der gleichen Würde aller Menschen beanspruchte, hatte ein solches Auslesesystem in den Augen der amerikanischen Beobachter*innen jedenfalls nichts zu suchen.

Der kritische Befund zu Unterricht und Schulsystem war für die Alliierten eine Bestätigung dafür, wie dringend und berechtigt jene Zielvorgaben waren, die der Alliierte Kontrollrat in Bezug auf die deutschen Schulen unmittelbar nach Kriegsende formuliert hatte: Erstens sollen alle Kinder und Jugendlichen in ein „umfassendes Schulsystem“ gehen, Grundschule und Höhere Schule also nicht als Alternativen, sondern als Phasen der Schullaufbahn begriffen werden. Zweitens muss diese Schule „größtes Gewicht auf die Erziehung zur staatsbürgerlichen Verantwortung und demokratischen Lebensweise legen“. Und drittens ist es eine vordringliche Aufgabe der politischen Bildung, das „Verständnis für andere Völker und die Achtung vor ihnen“ zu fördern.iii Über diese Ziele waren sich alle vier Besatzungsmächte damals einig. Schließlich entsprachen sie genau jenen Prinzipien, die sie im Potsdamer Abkommen beschlossen hatten: Deutschland sollte nicht nur demilitarisiert, denazifiziert und dezentralisiert, sondern eben auch demokratisiert werden.

Es kam bekanntlich anders. Spätestens Mitte 1947 zeigte sich, dass die amerikanische, die britische und teilweise auch die französische Regierung diese Grundsätze anders als die sowjetische interpretierten. Wer heute die Weichenstellungen dieser Jahre verstehen will, muss den Mut haben, sich auch in die Perspektive der jeweils anderen Seite hineinzudenken.

Der westdeutsche Weg: von der Kollektivschuldtheorie über die Reeducation zum pluralistischen Mündigkeitsverständnis

 

Entscheidend für das Auseinanderdriften von West und Ost war nicht nur der extrem unterschiedliche Grad der Betroffenheit durch das, was die Deutschen Europa und der Welt angetan hatten. Vielmehr ging es auch um das jeweilige Verständnis der Ursachen des Nationalsozialismus. Die US-Regierung vertrat damals die Kollektivschuldtheorie, der sich vor allem Großbritannien anschloss. Ihr zufolge sei es die große moralische Verfehlung der Deutschen gewesen, aus der heraus die Verbrechen erst möglich wurden. Verankert sei diese Verfehlung letztlich im „deutschen Volkscharakter“ und dieser hänge mit Besonderheiten der deutschen Geschichte zusammen. Die Deutschen müssten deshalb ganz grundlegend resozialisiert, ja von einer historischen Krankheit geheilt werden. Der Begriff „Reeducation“ sollte diesen Bezug zur Sozialpädagogik und Sozialpsychiatrie bewusst herstellen.iv Spätestens nach der westdeutschen Staatsgründung wurde freilich deutlich, dass diese Bemühungen in Westdeutschland kaum Wirkung zeigten. Die meisten Westdeutschen fühlten sich weder psychisch krank, noch sahen sie die Besatzungsmächte dazu legitimiert, sie umzuerziehen. Nicht wenige Westdeutsche fühlten sich den Besatzungsmächten sogar kulturell überlegen. Und überhaupt war die Meinung weit verbreitet, dass es Dringlicheres zu tun gäbe, als die Geschichte der deutschen Verbrechen aufzuarbeiten und sich beim Aufbau des demokratischen Staates zu engagieren.

Der Nährboden für politische Bildung war im Westen insgesamt also nicht günstig, auch als sie in die Verantwortung der Deutschen überging. Dazu wurden die Weichen durch den Beschluss der Kultusminister der Länder am 15.06.1950 gestellt. „Die politische Bildung erstrebt auf der Grundlage sachlichen Wissens die Weckung des Willens zum politischen Denken und Handeln. In der Jugend soll das Bewusstsein erwachsen, dass das politische Verhalten ein Teil der geistigen und sittlichen Gesamthaltung des Menschen darstellt.“v Wichtig war, dass politische Bildung in diesem Beschluss der Kultusministerkonferenz zunächst als „Unterrichtsprinzip“ definiert wurde, das in allen Schularten und allen Fächern auf je besondere Weise zum Tragen kommen müsse. Erst im nächsten Absatz wurde „empfohlen“, ab der 7. Jahrgangsstufe einen gesonderten Fachunterricht einzurichten, über dessen Benennung die Länder selbst entscheiden könnten. Für die didaktische und schulpädagogische Diskussion ist der darauffolgenden Absatz zentral: „Die engste Verbindung zwischen Gelehrtem und Gelebtem gilt gerade für diesen Unterricht und bestimmt seine Methode.“ So sollte der Nährboden für „lebendigen Gemeinsinn“ und „entscheidungsfreudige Mitverantwortung an der Gestaltung des öffentlichen Lebens im Volk und zwischen den Völkern“ in den Köpfen und Herzen der jungen Menschen bereitet werden.

Die praktische Umsetzung dieser anspruchsvollen Ziele erforderte zunächst die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Das machte entsprechende Angebote an Akademien der Lehrer*innenfortbildung und Universitäten notwendig. Zusätzlich wurden in den 1950er-Jahren spezielle Institutionen geschaffen (1952 Bundeszentrale für Heimatdienst, 1963 umbenannt in Bundeszentrale für politische Bildung, und nach und nach entsprechende Landeszentralen), die außer für die Lehrer*innenfortbildung auch für die außerschulische politische Bildung sorgen sollten und, anders als die Bildungsarbeit der partei- und verbandsnahen Stiftungen, einem strengen parteipolitischen Neutralitätsgebot verpflichtet waren. Die praktische Umsetzung der genannten Bildungsziele wurde allerdings durch das Föderalismusprinzip erschwert. Die je nach parteipolitischer Ausrichtung unterschiedlichen Vorstellungen über Bildung und Schule zeigten sich nicht zuletzt auch an den Universitäten. Zuständig für die Lehrer*innenbildung im Bereich der politischen Bildung war zunächst die noch junge Disziplin der Politikwissenschaft, die durch die neue Aufgabe auch ihre Legitimation erhöht sah.vi Dass dort jede Menge Konfliktpotenzial entstand, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass mancher konservative Politikprofessor seine Karriere in der NS-Zeit gemacht hatte (Theodor Eschenburg), andere aber als Sozialisten im Widerstand gewesen waren (Wolfgang Abendroth).

Die Umsetzung der genannten Bildungsziele erforderte auch die Entwicklung politikdidaktischer Konzepte, die von der weithin verbreiteten Institutionenkunde wegführen sollten. Erarbeitet wurden Konzepte für die Orientierung des Unterrichts am Ideal der rationalen Urteilsbildung (Bernhard Sutor) sowie an konkreten politischen und gesellschaftlichen Fällen (Kurt Gerhard Fischer), Problemen (Wolfgang Hilligen), Konflikten (Hermann Giesecke) und am Schüler*inneninteresse (Rolf Schmiederer).

Unter dem Eindruck der 68er-Bewegung spitzten sich die inhaltlichen Konflikte um die Ausrichtung der politischen Bildung in der Bundesrepublik immer mehr zu. Ein Höhepunkt war der Streit um den 1972 von einem SPD-Kultusminister vorgelegten Entwurf der „Hessischen Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre“. Dieser Entwurf musste nach heftiger Kritik der CDU und Verlusten der SPD bei den darauffolgenden Landtagswahlen wieder zurückgenommen werden. Es ging dabei vor allem um die Frage, wie sich die politische Bildung zur herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung positionieren sollte. Aus der Sicht vieler CDU-Politiker*innen und konservativer Wissenschaftler*innen sollte Mündigkeit auf das Agieren innerhalb der bestehenden Institutionen beschränkt bleiben. Aus der Sicht vieler SPD-Politiker*innen und linker Wissenschaftler*innen musste politische Bildung zudem dazu befähigen, diese Institutionen selbst in Frage zu stellen. Integration versus Emanzipation – das schienen, formelhaft verkürzt, zwei unvereinbare Wege hin zum Ziel der von beiden Seiten immer wieder beschworenen Mündigkeit als generellem Bildungsziel.

Erst auf einer Tagung der baden-württembergischen Landeszentrale für politische Bildung 1976 fand man einen Konsens, der gewissermaßen für alle drei Ecken des didaktischen Dreiecks Leitplanken des Unterrichts definiert: Lehrer*innen dürfen Schüler*innen niemals überwältigen, die Inhalte müssen in ihrer Kontroversität erkennbar werden, die Schüler*innen müssen befähigt werden, sich ihrer Interessen bewusst zu werden und für sie einzutreten (Konsens von Beutelsbach). Dieser Konsens gilt seither als weithin anerkannt. In jüngerer Zeit kreist die politikdidaktische Diskussion vor allem um die empirische Überprüfbarkeit von politisch bedeutsamen Kompetenzen und die Aufgabe einer über den Politikunterricht weit hinausreichenden umfassenden Demokratiepädagogik.vii

Der ostdeutsche Weg: von der Faschismustheorie über die antifaschistisch-demokratische Umgestaltung zur sozialistischen Persönlichkeit

Dass die politische Bildung in der sowjetisch besetzten Zone einen anderen Weg einschlug, hing ganz wesentlich mit der radikalen Ablehnung der oben skizzierten Kollektivschuldtheorie der Westalliierten zusammen. Nicht unterschiedslos alle Deutschen, so die sowjetische Sicht, seien für die NS-Verbrechen verantwortlich. Vielmehr müsse man unbedingt zwischen deutschen Täter*innen und deutschen Opfern unterscheiden. Erinnert wurde vor allem an jene Deutsche, die bereits seit Mitte der 20er-Jahre Widerstand gegen den aufkommenden Faschismus geleistet hatten und dies nach 1933 oft mit dem Leben bezahlen mussten. Zu den Täter*innen zählte die Sowjetunion nicht nur die NS-Eliten, sondern auch Teile der deutschen Gesellschaft, die die Nazis an die Macht gebracht hatten, also vor allem die Rüstungs- und Schwerindustrie. Letztlich, so diese Perspektive, sei es das in Deutschland und in der gesamten westlichen Welt herrschende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gewesen, das den Ersten Weltkrieg, den in Deutschland von vielen als Diktat empfundenen Versailler Vertrag, die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg zu verantworten habe. Mit der Umerziehung der Deutschen sei es also, so die sowjetische Lehre aus NS-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg, nicht getan. Nötig sei vielmehr eine Neuordnung auch der ökonomischen Strukturen, eine „antifaschistisch- demokratische“ Umgestaltung.viii

Der ostdeutsche Weg der politischen Bildung unterschied sich zunächst vom westdeutschen hauptsächlich durch das Tempo und die Entschiedenheit, mit der er begangen wurde. Die antifaschistisch-demokratische Umgestaltung kam in der sowjetisch besetzten Zone auch deshalb schnell voran, weil sie sich auf die Kräfte des Widerstands gegen den NS stützen konnte. So wurde bereits 1945 in einem Befehl der Sowjetischen Militäradministration und in einer gemeinsamen Kundgebung von KPD und SPD die Weichenstellung einer demokratischen Schulreform deutlich. Ausgangspunkt war eine gemeinsame Erkenntnis: Die Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hänge wesentlich damit zusammen, dass nach dem Ersten Weltkrieg bei der Gründung der Weimarer Republik versäumt worden sei, die alten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten wirklich radikal zu entmachten. In diesem Zusammenhang habe auch keine „wirkliche Neugeburt der Schule“ stattgefunden. „Unser Erziehungsziel“, so Anton Ackermann von der KPD, „ist der wahre Humanismus, worunter wir die Erziehung zu einer lebendigen und kämpferischen Demokratie, zu schöpferischer, friedlicher Leistung des Einzelnen für das Volksganze, die Erziehung zur Freundschaft unter den friedlichen Völkern, zum aufrechten, freiheitlichen fortschrittlichen und selbständigen Denken und Handeln verstehen“.ix Dazu müssten die Schulen von allen nazistischen, militaristischen und rassistischen Lehrinhalten und Lehrkräften befreit werden und eine grundlegend neue Struktur erhalten.

Bereits 1945 wurde, parallel zum Beginn der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, in der sowjetischen Besatzungszone die „Gegenwartskunde“ eingeführt. Sie galt als Unterrichtsprinzip, wurde aber gleichzeitig als einstündiges Fach etabliert. Faktisch war dies eine Art Zeitungslesestunde ohne speziellen Lehrplan. Für die Grundlegung des DDR-Schulsystems griff man in den Folgejahren sowohl auf die Reformpädagogik der Weimarer Republik wie auf sowjetpädagogische Vorbilder zurück. Die ersten Jahre der „antifaschistisch-demokratischen“ Umgestaltung waren insgesamt weitgehend von humanistischen Überzeugungen getragen. Die Verantwortlichen sahen sich im Einklang mit der oben zitierten Direktive des Alliierten Kontrollrats und den Prinzipien des Potsdamer Abkommens. Kompromisslos war man vor allem bei der Entfernung von NS-belasteten Lehrer*innen. Das machte freilich in der DDR die Einrichtung von Schnellkursen zur Ausbildung neuen pädagogischen Personals erforderlich.

Bald schon zeigte sich jedoch, dass die „antifaschistisch-demokratische“ Umgestaltung auch im Schulwesen immer mehr in Richtung Festigung des „realen Sozialismus“ und Etablierung der „marxistisch-leninistischen Weltanschauung“ ging. Das hat nichts mit sowjetischem Expansionismus zu tun, wie manche im Westen bis heute behaupten. Es hing vielmehr ganz wesentlich mit den restaurativen Tendenzen in den westlichen Besatzungszonen, die frühzeitig vereinigt und in die Bundesrepublik übergeführt wurden, sowie mit dem beginnenden Kalten Krieg zwischen West und Ost zusammen, der das historisch begründete starke Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion weiter verstärkte.x In diesem Zusammenhang wurde auch die ideologisch nicht festgelegte Gegenwartskunde 1957 durch eine Staatsbürgerkunde für die Klassen 8 bis 12 ersetzt. Sie sollte Kindern und Jugendlichen ökonomische, philosophische und politische Grundkenntnisse für das Leben im sogenannten realen Sozialismus vermitteln. Das Schulgesetz von 1965 präzisierte, dass dies letztlich auch zur „Liebe des Einzelnen zur Arbeit“ und zur „Identifikation mit dem sozialistischen Staat“ beitragen solle.xi So wurde aus der „antifaschistisch-demokratischen“ Umgestaltung ein autokratischer Staat mit einem höchst problematischen Verständnis von Demokratie, der demokratische Pluralismus mutierte zum stalinistischen Monismus.xii Das Prinzip der Einheitsschule, im Westen bekanntlich Gesamtschule genannt, das den Kindern die Erfahrung des Einsortiertwerdens ersparen sollte und das von den Alliierten ursprünglich für ganz Deutschland gefordert worden war, blieb in der DDR bekanntlich bis zum Schluss erhalten.

Und nun? Politische Bildung im vereinigten Deutschland

Die Eingliederung Ostdeutschlands in die Bundesrepublik war für die ehemaligen DDR-Bürger*innen eine enorme Herausforderung. Viele mussten erkennen, dass ihr Weg sich als Sackgasse erwiesen hatte. An die Stelle des Leitbilds der sozialistischen Persönlichkeit und einer verbindlichen Weltanschauung trat nun auch für sie das Leitbild des*der mündigen Staatsbürgers*in im westdeutschen Verständnis. In den neuen Bundesländern musste man sich mit einem weltanschaulichen Pluralismus arrangieren, der die sozialistische Option zu einer von mehreren möglichen politischen Grundrichtungenxiii machte, deren Legitimität zudem bekanntlich von Konservativen und Liberalen nicht selten mit beachtlichem Aufwand in Frage gestellt wurde und bis heute wird.

Darüber hinaus sah und sieht sich die politische Bildung im vereinigten Deutschland in den vergangenen fast 30 Jahren mit teils neuartigen Herausforderungen konfrontiert: mit massiven nationalistischen, rassistischen, antidemokratisch-autokratischen Bestrebungen, mit einer beschleunigten Globalisierung, mit der immer unkalkulierbarer werdende soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Risiken einhergehen. Im vereinigten Deutschland zeigte sich auch, dass offenbar weder der westliche noch der östliche Weg der politischen Bildung die psychische Tiefendimension der NS-Herrschaft – Autoritarismus, Nationalismus, Rassismus – ernst genug genommen hatte. Daher immer wieder das Entsetzen über menschenverachtende Worte und Taten in Ost wie West, auch bei den für die politische Bildung Verantwortlichen. Hier vermochte die politische Bildungspraxis bisher kaum etwas entgegenzusetzen. Nicht zuletzt deshalb, weil Konkurrenz und Ausleseerfahrungen in einer durch Notendruck geprägten Schule und einer durch Gewinnmaximierung getriebenen Gesellschaft offenbar tiefe Wunden in der Psyche des Menschen hinterlassen.

Die immer wieder beklagte Wirkungslosigkeit politischer Bildungsbemühungen hängt vermutlich auch mit einem problematischen Aspekt des westlichen Verständnisses von Pluralismus zusammen: der strengen Trennung von staatlicher und wirtschaftlicher Ordnung. Mit ihr geht vielfach die Trennung zwischen politischer (Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politik) und ökonomischer Bildung (Wirtschaftskunde, Wirtschaft/Recht) einher. Das war in der DDR anders („Liebe des Einzelnen zur Arbeit“). Das Problem dieser spezifisch westlichen Art von Pluralität besteht darin, dass in einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Homo politicus (Staat) und der Homo oeconomicus (Wirtschaft) aus sehr unterschiedlichen Welten mit konträren Tugenden stammen: Vom Homo politicus wird erwartet, dass er vor allem gemeinschaftlich denkt, Verantwortung für andere übernimmt und mit ihnen solidarisch ist. Vom Homo oeconomicus hingegen, dass er vor allem an sich selbst denkt, den persönlichen Nutzen voranstellt und die Kosten seines Tuns rücksichtslos auf andere abwälzt. Dass zu diesem Spagat sehr viele Menschen nicht in der Lage und auch nicht bereit sind, ist offensichtlich – nicht nur in den neuen Bundesländern. Wie soll auf dem Nährboden eines „Pluralismus“, der den Primat des Politischen vor dem Ökonomischen systematisch gefährdet, jener „lebendige Gemeinsinn“, jene „entscheidungsfreudige Mitverantwortung“ gedeihen, die die westdeutschen Kultusminister 1950 als Leitziele der politischen Bildung angegeben hatten? Wie soll sich angesichts einer derart geteilten Welt das „Gelehrte“ und das „Gelebte“ in den Köpfen und Herzen junger Menschen wirklich verbinden können? So besehen ist „Fridays for Future“ fast ein Wunder.

i Rossmeissl 1988, zitiert nach Detjen Joachim, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland, München – Wien 2007, S. 105. Grundlegend zur Geschichte der politischen Bildung: Gagel Walter, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1989/90, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2005.

ii Detjen 2007, S. 105.

iii Kontrollratsdirektive Nummer 54, zitiert nach Detjen 2007, S. 100.

iv Detjen 2007, S. 100.

v Zitiert nach Detjen 2007, S. 109.

vi Zur Vertiefung: Detjen Joachim, Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung, Baden-Baden 2016.

vii Reheis Fritz, Politische Bildung. Eine kritische Einführung, 2., überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2016, Kap. 5 („Mündigkeit als Prozess“). Vgl. auch das im Wochenschau-Verlag erscheinende „Jahrbuch Demokratiepädagogik“.

viii Mit dieser Einschätzung stand die Sowjetunion damals übrigens nicht allein. Wer vom Faschismus spreche, dürfe vom Kapitalismus nicht schweigen, urteilten auch kritische Wissenschaftler*innen im Westen (Max Horkheimer). Diese Erkenntnis fand sich auch in den frühen programmatischen Äußerungen der SPD. Und im Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU von 1947 war zu lesen, „das kapitalistische Wirtschaftssystem“ sei „den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“.

ix Zitiert nach Detjen 2007, S. 107.

x Zu den Ursachen der Teilung Deutschlands und der Welt: Loth Wilfried, Die Teilung der Welt 1941-1955, München 1980.

xi Detjen 2007, S. 202.

xii Detjen vertritt demgegenüber die Auffassung, dass der pluralistische Anspruch in Ostdeutschland von Anfang an nicht ernst gemeint war.

xiii Reheis 2016, S. 158-169.

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