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Betroffene

Wie wird man ein „Verfassungsfeind“?

Mein Name ist Friedrich Sendelbeck. Ich bin seit fast 50 Jahren Gewerkschaftsmitglied und hatte dort viele Funktionen inne, u. a. im Stadtvorstand des DGB Nürnberg und im GEW-Kreisvorstand. Meine Frage heute: Wie wird man ein „Verfassungsfeind“?

Meine Antwort: Ich wurde ein solcher – oder besser: Ich wurde zu einem solchen gemacht. Ich empfand mich nämlich nie als Feind der Verfassung. Im Unterschied dazu sah ich aber an vielen Stellen eine Diskrepanz zwischen dem Verfassungstext und der Verfassungswirklichkeit. Bevor ich beginne, hier noch drei Vorbemerkungen.

Erste Vorbemerkung

In meiner Schulzeit kam ich so gut wie nie in Kontakt mit der Verfassung! Da wird es schon schwierig, ein Feind von etwas zu werden, das einem nicht nahegebracht wurde. Nachdem ich dann in den frühen 70er-Jahren die Schule absolvierte und mein Studium begann, konnte ich nicht umhin, mir unsere Verfassung, das Grundgesetz, näher anzuschauen. Dabei wurde ich aber erst recht kein Feind dieser Verfassung, denn für mich waren z. B. die in Artikel 20 Grundgesetz niedergelegten Grundsätze der Demokratie und des Sozialstaats sehr vernünftige und wünschenswerte Grundsätze, die ich jedoch noch lange nicht als verwirklicht ansah. Ob ich damit schon ein Verfassungsfeind war?

Zweite Vorbemerkung

Als ich 1976 mein Lehramtsstudium in den Fächern Geschichte, Germanistik und Sozialkunde erfolgreich abschloss und mich für das Referendariat bewarb, ahnte ich noch nicht, dass ich zwar als Tutor an einer Universität des Freistaats Bayern hatte arbeiten können, mir aber im Februar – ich erfuhr dies erst nach einer telefonischen Nachfrage beim Kultusministerium – der Zugang zur zweiten Phase meiner Lehrerausbildung verwehrt werden würde.

Dritte Vorbemerkung

Ich erinnere mich noch gut an den Namen des Ministerialrats Himmelstoß, der bei einem Anruf im Ministerium zunächst meinte, dass ich an einem Gymnasium in Erlangen eingesetzt würde. Auf Nachfrage erklärte er dann allerdings, dass „Bedenken“ bezüglich meiner Verfassungstreue vorlägen. Das Weitere bekäme ich dann schriftlich. Damit war ich als „Verfassungsfeind“ abgestempelt. Dies schockierte mich zunächst sehr, denn um meine Ausbildung abschließen zu können, war ich auf das Referendariat angewiesen.

Doch warum sah sich das Kultusministerium dazu veranlasst, aus mir einen „Verfassungsfeind“ zu machen? Denn ganz nebenbei: Von den fünf gegen mich vorgebrachten „Erkenntnissen“, die Anlass dazu geben sollten, mich als „Verfassungsfeind“ zu bezeichnen, waren vier offensichtlich falsch. So soll ich z. B. eine politische Veranstaltung in einem Jugendzentrum geleitet haben, als es dieses noch gar nicht gab. Doch auch abgesehen davon ist es ein Grundrecht, sich politisch zu informieren.

Da mir bezüglich der Anschuldigungen eine Anhörung verwehrt wurde, nahm ich schriftlich dazu Stellung. Dabei wies ich auch darauf hin, dass ich ja während meines Studiums bereits als Tutor für den Staat tätig war und ich mich schon damals dazu verpflichtet hatte, das Grundgesetz zu achten. Der einzig zutreffende Vorwurf war meine Kandidatur für das Studentenparlament, ein legales politisches Engagement.

Mit meinen Ausführungen konnte ich aber, wie man mir wiederum schriftlich mitteilte, die „Zweifel“ an meiner Verfassungstreue nicht ausräumen. Trotzdem erhielt ich als einer der wenigen Betroffenen keine Anhörung bei der Regierung und somit auch keine Möglichkeit, im Gespräch die Dinge zu klären. Lapidar hieß es in dem Schreiben: Ich könne ja klagen.

Das machte ich dann auch: Mitte 1977 reichte ich meine Klage beim Verwaltungsgericht Ansbach ein. Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1983, bis dieses Gericht meinen Antrag ablehnte. Zum Glück hatte mein Anwalt hilfsweise auch beantragt, dass ich mein Referendariat wenigstens als Angestellter absolvieren könne, um die Ausbildung abzuschließen. Dieser Antrag wurde an das Arbeitsgericht überwiesen. Dort gewann ich, da der Staat nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1972 in Berufen, in denen er das Ausbildungsmonopol hat, auch einen Ausbildungsabschluss außerhalb des Beamtenverhältnisses zulassen müsse.

Doch der Freistaat hielt sich nicht an das Urteil! Vielmehr änderte er am 8. Mai 1985 im Landtag die rechtliche Grundlage und dekretierte, dass in Bayern die Lehrerausbildung ausschließlich im Beamtenverhältnis stattfinden könne. Gleichzeitig hatte das Kultusministerium Rechtsmittel gegen das Arbeitsgericht eingelegt. Somit stand ich 1985 – nach der genannten Rechtsänderung – also vor dem Landesarbeitsgericht (LAG). Der Richter dort machte es sich sehr einfach und erklärte, dass mein Antrag, als Angestellter beschäftigt zu werden, aufgrund der nunmehrigen Rechtslage nicht möglich sei. Er hob das Urteil des Arbeitsgerichts auf. Dagegen ging ich vor und zog vor das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die dortigen Richter hielten das bayerische „Maßnahmegesetz“ wegen Verstoßes gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für rechtswidrig und verwiesen deshalb meine Klage zur Vorlage nach Karlsruhe.

Erfreulich für mich war die große Solidarität, die mir in jener Zeit von vielen Seiten entgegengebracht wurde. So hatten sich zahlreiche Menschen aus Politik, Gewerkschaft und Gesellschaft, darunter auch der Nürnberger Stadtrat, für mich eingesetzt. Selbst die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) fragte beim Freistaat Bayern an, wann ich denn endlich meine Ausbildung beenden könne.

Mein Anwalt riet mir nach einigen Informationen aus Karlsruhe und vonseiten der ILO dringend dazu, meinen Revisionsantrag beim BAG zurückzunehmen. Die Gründe dafür auszuführen, würde hier zu weit führen. Damit wurde mit einiger Verspätung das Urteil des LAG rechtskräftig. Ich war also gerichtlich festgestellt ein „Verfassungsfeind“.

Notwendiger Exkurs: Fast parallel zu meinem festgestellten Berufs- und Ausbildungsverbot sah der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im August 1988 keinen ausreichenden Grund für die Entlassung des Fürther Studiendirektors Hans-Jürgen Witzsch, der seine Schüler*innen u. a. mit Aussagen wie „Sechs Millionen im Dritten Reich ermordete Juden sind eine Phantasiezahl, für die es keinerlei Beweise gibt“ belehrte. Zuvor hatte ihn bereits das Ansbacher Verwaltungsgericht, das Jahre vorher in meiner Abwesenheit mein Ausbildungsverbot bestätigt hatte, vom Vorwurf freigesprochen, im Unterricht Nazithesen verbreitet zu haben.

Bevor ich zum Schluss komme, noch zwei Nachbemerkungen.

Erste Nachbemerkung

Ich musste ja während dieser Zeit meinen Lebensunterhalt verdienen und arbeitete in der privaten Erwachsenenbildung zu viel schlechteren Bedingungen als im staatlichen Schuldienst.[i] Dort war ich viele Jahre im Betriebsrat und danach Gewerkschaftssekretär, zunächst bei der GEW Bayern und anschließend noch über zehn Jahre bei ver.di Mittelfranken. Diesen Positionen verdanke ich es u. a., dass ich heute eine Rente erhalte, die zwar immer noch deutlich niedriger als die Pension ist, aber mich doch über das Niveau der Grundsicherung hebt.

Zweite Nachbemerkung

Ich wurde vor etwa fünf Jahren gebeten, an einer Bildungseinrichtung der Universitätsklinik zu unterrichten. In diesem Rahmen wurde verlangt, dass ich einen vierseitigen Bogen, den ich für völlig rechtswidrig halte, ausfüllen sollte. Als ich mich weigerte, verlangte man von mir, ich solle einer Anfrage an das Landesamt für Verfassungsschutz zustimmen. Diesem Verlangen stimmte ich sehr gerne zu – und erhielt nach einigen Wochen die Auskunft, dass gegen mich nichts vorläge. Ich durfte also unterrichten, obwohl ich meine Ausbildung im Lehramt nie abschließen konnte.

Letzter Hinweis

In Niedersachsen hat sich der dortige Landtag bei den Opfern der Berufsverbotepraxis entschuldigt.[ii] Derzeit wird auch über Entschädigungen verhandelt. Mir wurde vom bayerischen Innenminister im Jahr 2014 ein Gespräch über meinen Fall verweigert. Er teilte mit: „Ich habe keinen Zweifel, dass das damalige Vorgehen rechtmäßig war.“

von Friedrich Sendelbeck

 


[i Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen erreichte ich später in diesem Bildungsträger einen halbwegs ordentlichen Branchentarifvertrag.

[ii] Jutta Rüpke (HG.): Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990: Eine Dokumentation. Hannover 2018; Download: demokratie.niedersachsen.de