Die Bedeutung von Bildung und Erziehung wurde im Wahlkampf von allen Parteien betont. Wie sieht die Wertschätzung durch Gesellschaft und Politik für diesen Bereich in Wirklichkeit aus?
»Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.« (Paragraf 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes – KJHG) Vor diesem Rechtsanspruch müssen alle Maßnahmen im Bereich Bildung, Erziehung und Betreuung bestehen und sich legitimieren. Dieses Recht muss für alle in Deutschland lebenden Kinder gelten, ganz gleich, welchen rechtlichen und sozialen Status sie innehaben. Leider kennen unsere Politiker diesen im KJHG festgeschriebenen Rechtsanspruch oft nicht oder sie verdrängen ihn in Haushaltsberatungen. Denn dieses Recht wird allzu oft mit Füßen getreten – durch Ausgrenzung von Migrantenkindern; durch Ausgrenzung von Kindern mit besonderem Förderbedarf, die nicht in Regeleinrichtungen aufgenommen werden; durch ein selektives Schulsystem, das Kinder ohne weitere Förderung sitzen bleiben lässt und aussondert; durch Diskriminierung von Kindern, die in Armut leben –
z. B. durch Hartz IV – und die somit von vielen Kultur- und Bildungsangeboten ausgeschlossen werden, weil diese häufig gebührenpflichtig sind; durch fehlende Berufsausbildung; durch abschreckende Studiengebühren! Diese Aufzählung macht deutlich, wie weit die Sonntags- und Wahlreden vom Bildungsalltag der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen entfernt sind. Sie haben mit der Lebenswirklichkeit nichts gemein.
Die mangelnde Wertschätzung von pädagogischer Arbeit bildet sich auch in einem hohen Einkommensgefälle bis hin zu prekären Arbeitsverhältnissen ab.
In den pädagogischen Arbeitsfeldern – von der Kinderpflegerin bis hin zum Erwachsenenbildner – spiegelt sich in der Bezahlung auch die völlig verkehrte Bildungspyramide wider: Leiharbeit in der Schulsozialarbeit und in der Erwachsenenbildung, Halbtagstätigkeiten im Kindergarten, von denen keine Erzieherin eine Familie ernähren kann, bis hin zu 1-Euro-Kräften im Ganztagsschulbereich oder bei ambulanten Wohnbetreuungen. Wer so die pädagogischen Berufe systematisch runterwirtschaftet, braucht sich nicht zu wundern, wenn der Nachwuchs für diese Berufe fehlt. Es muss in einem der reichsten Länder der Welt doch möglich sein, dass Pädagoginnen und Pädagogen – auch in München – von ihrem Verdienst eine eigene Familie ernähren können. Diese mangelnde Wertschätzung muss von uns als GEW viel stärker skandalisiert werden.
Dienstliche Beurteilungen und Zielvereinbarungsgespräche dienen inzwischen u. a. als Grundlage für die Zuteilung von Leistungszulagen. Behindert diese Art von »Wertschätzung« Teamarbeit und führt sie zu Entsolidarisierung?
Wer beurteilt und Zielvereinbarungen schließt, muss zunächst die gesellschaftlichen Ziele im Konsens definieren. Das ist nicht passiert, denn die Beurteilungskriterien lassen sich eben nicht aus der Wirtschaft ableiten. Bildung, Erziehung und Betreuung sind keine Ware! Das »Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung« muss durch die Gesellschaft gestaltet werden. Dazu gehören Vereinbarungen wie jene im
10. Kinder- und Jugendbericht, in denen Fähigkeiten definiert werden, die jedem Kind für seinen Lebensweg mitgegeben werden sollten: die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Fähigkeit zur Mitbestimmung und die Fähigkeit zur Solidarität. Wertschätzung bedeutet aber auch, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen »…eigenständige und gemeinschaftsfähige Persönlichkeiten…« erzogen und gebildet werden können. Ich habe den Eindruck, dass eine Reihe von Arbeitgebern mit Beurteilungen und sogenannten Zielvereinbarungen von den miserablen Arbeitsbedingungen ablenken wollen. Eine Gesellschaft, die alle Lebensbereiche ökonomisiert, die Bildung und Erziehung als Ware begreift, die Eltern per Gutschein oder Studierende über Gebühren Bildung »einkaufen« lässt, verstößt gegen das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendlichen. Eine solche Gesellschaft signalisiert der nachwachsenden Generation, dass die Kurse der Börse einen größeren gesellschaftlichen Wert besitzen als die Erziehung und Bildung der nachwachsenden Generation. Damit dürfen wir uns als Gewerkschaft nicht abfinden.
Die Erzieherinnen und Erzieher haben mit den Streiks auf die Bedeutung und die Bedingungen ihrer Arbeit aufmerksam gemacht. Wie beurteilst Du das Ergebnis der Tarifrunde zur Eingruppierung im Sozial- und Erziehungsdienst?
Es war ein langer und harter Kampf. Viele ehren- und hauptamtliche Funktionärinnen und Funktionäre haben mit ihrem Engagement diesen Arbeitskampf gestaltet. Von solchem Engagement lebt die GEW. Aber ich hätte mir mehr Unterstützung durch die gesamte Organisation und vom DGB gewünscht. Die Erzieherinnen und Erzieher und auch einige Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter haben gezeigt, dass sie nicht mehr bereit sind, unter den schwierigen Arbeitsbedingungen zu arbeiten und sich auch nicht mehr mit der schlechten Bezahlung des TVöD abspeisen lassen. Sie haben in hervorragender Weise gezeigt, dass sich Erzieherinnen und Erzieher nicht mehr alles gefallen lassen. Das hat diese Profession verändert! Die jüngeren Kolleginnen und Kollegen sind die Gewinnerinnen und Gewinner dieses Abschlusses. Deutlich liegt der Abschluss über dem TVöD. Für die Kolleginnen und Kollegen, die schon länger im Beruf sind, hätte ich mir einen besseren Abschluss gewünscht. Ebenso für die Mehrzahl der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und nicht nur für die, die mit Kindeswohlgefährdung arbeiten. Aber nach der Sommerpause weiterzustreiken, wäre ein gefährliches Unterfangen gewesen. Ich habe keine Steigerungspotenziale gesehen. Ich weiß, dass einige Kolleginnen und Kollegen dies anders sehen und deshalb auch in der Urabstimmung mit Nein gestimmt haben. Ich kann dies sehr wohl nachempfinden! Wir stehen ja im kommunalen Bereich 2010 wieder vor einer Tarifrunde. Die Forderungen müssen jetzt an der Basis aufgestellt werden. Wir brauchen einen langen Atem, um unsere Forderungen durchzusetzen. Wer glaubt, mit einer Runde Streiks würden sich die Arbeitgeber schon in die Knie zwingen lassen, der irrt gewaltig! Die TVöD-Runde hat gezeigt: Diese Arbeitgeber spiegeln überhaupt nicht die gesellschaftliche Diskussion um Wertschätzung der pädagogischen Arbeit wider. Sie sind knallharte Finanzbürokraten! Hier ist nicht nur eine andere Gewerkschaftsstrategie, sondern auch die Politik gefordert: Wenn der Münchner OB in Sonntagsreden die Erzieherinnen und Erzieher lobt, dann muss er seinem Vertreter in der Tarifverhandlung auch entsprechende Anweisungen geben. Sonntags waren die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister die großen Kinderfreunde und am Montag in der Verhandlungsrunde wollten sie davon nichts mehr wissen. Sie spielten ein falsches Spiel!
Welche Strategien wären sinnvoll, um die Diskussion über die Qualität von Bildung und Erziehung auf eine breitere Basis zu stellen? Konkret: Gibt es Erfahrungen zu erfolgreicher Bündnisarbeit?
Ja, es gibt Erfahrungen, übrigens auch in Bayern. Mit Eltern, Wohlfahrtsverbänden und den anderen DGB-Gewerkschaften sind zurzeit solche Bündnisse für den Bereich Kita am Laufen. Aktuell haben wir in Brandenburg, Baden- Württemberg, Niedersachsen und Berlin solche Bündnisse, die die Parlamente bei den Haushaltsberatungen zwingen müssen, deutlich mehr Geld in die Bildung zu geben als in Prestigeprojekte. In Berlin ist es den Kita-Eltern gelungen, einen Volksentscheid einzuklagen. Hierbei geht es ganz direkt um bessere Rahmenbedingungen für die Erzieherinnen und Erzieher.
Wir müssen damit rechnen, dass das Argument der leeren öffentlichen Kassen jetzt jede Tarifrunde prägt. Welche Argumente können wir denn diesen Einwänden entgegenhalten?
Warum sollen wir uns dieses Argument zu eigen machen, solange Steuergeschenke für Besserverdienende und Unternehmen verteilt werden. Solange viel Geld für Militär-Einsätze vorhanden ist, müssen wir uns der Argumentation der leeren Kassen nicht anschließen. Es ist seit PISA ja hin- und hergerechnet worden und auch seit dem Bildungsgipfel der Kanzlerin: Wer gute Bildung haben will, muss jährlich ca. 40 Milliarden mehr ausgeben, ansonsten kann man von den Pädagoginnen und Pädagogen, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht verlangen, unter schlechten Rahmenbedingungen Top-Ergebnisse zu erzielen. Dies müssen wir gegenüber den Eltern noch deutlicher machen.
Was sind die Ziele für die angestellten Lehrerinnen und Lehrer in den anstehenden Tarifverhandlungen?
Hier sind die Forderungen der GEW ganz klar: Wir wollen für gleiche Arbeit den gleichen Lohn, das heißt E 14 für alle Lehrerinnen und Lehrer! Wir müssen die Tarifarbeit auch für bildungspolitische Ziele nutzen. Wer eine Schule für alle will, muss dies auch in der Bezahlung sichtbar werden lassen. Ich weiß, dass dies selbst in der GEW strittig ist. Aber eine Grundschullehrerin arbeitet genauso angestrengt wie die Gymnasiallehrerin. Unterschiede müssen dann mit den Rahmenbedingungen ausgeglichen werden: in Hauptschulen mehr Sozialarbeiter; für erhöhten Korrekturbedarf weniger Unterrichtsverpflichtung. Aber der alte gewerkschaftliche Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« muss endlich umgesetzt werden! Hier unterscheidet sich die GEW auch deutlich von anderen Lehrerverbänden.
DDS November 2009