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Stabile Fehlentwicklungen

Etikettierungsschwemme und Separationsstillstand weiterhin auf hohem Niveau Hans Wocken untersucht, inwieweit speziell Bayern seiner Verpflichtung zum Aufbau eines inklusiven Schulsystems nachkommt.

1. Ein Inklusionsmärchen

Bayern hat durch die Ratifizierung der UN-BRK völkerrechtlich verbindlich versprochen, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) der Vereinten Nationen hat in seinem ersten Staatenbericht sich besorgt darüber geäußert, „dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in dem Bildungssystem des Vertragsstaates segregierte Förderschulen besucht“ (CRPD 2015). Zugleich hat der Ausschuss Deutschland aufgefordert, „im Interesse der Inklusion das segregierte Schulwesen zurückzubauen“, und empfohlen, „dass Regelschulen mit sofortiger Wirkung Kinder mit Behinderungen aufnehmen“ (CRPD 2015). Ob der Umbau des segregierenden Schulsystems progressiv vorangeschritten ist, kann empirisch an zweierlei Kriterien gemessen werden:

  1. Erstens ein deutlicher „Rückgang der Separation“ von Schüler*innen mit Behinderungen in Sonder- oder Förderschulen und

  2. zweitens ein merklicher „Anstieg der Inklusion“ von Schüler*innen mit Behinderungen in allgemeinen Schulen.

Die beiden Kriterien „Rückgang der Separation“ und „Anstieg der Inklusion“ können wie kommunizierende Röhren verstanden werden und gehören unauflöslich zusammen. Aus Weggängen aus den Sonderschulen resultieren Zugänge zu den allgemeinen Schulen.

Vor einigen Jahren habe ich in zwei Untersuchungen die Inklusionsentwicklung in Bayern und in Deutschland anhand der offiziellen Statistiken analysiert. Die Titel der beiden Arbeiten geben die zentralen Befunde schlagwortartig wieder:

  • Bayern: „Verkehrte Inklusion: Über die ungerührte Fortsetzung der Separation und die ungeziemende Eingemeindung der Nichtbehinderten“ (Wocken 2014).

  • BRD: „Die verführerische Faszination der Inklusionsquote. Ein Aufschrei gegen die Etikettierungsschwemme und den Separationsstillstand“ (Wocken 2016).

Der festgestellte Stand der Inklusionsreform bis zum Schuljahr 2013/14 war in hohem Maße unbefriedigend. Auch der Prüfbericht des CRPD-Ausschusses hat sich ja, wie oben bereits zitiert, „besorgt“ geäußert. Nachdem drei weitere Jahre vergangen sind, ist es an der Zeit nachzufragen, ob die „verkehrte Inklusion“ mittlerweile in die richtige Richtung geht und empirisch belegbare Erfolge aufweisen kann. Das soll hier für das Bundesland Bayern geschehen. Die Daten stammen vom Bayerischen Landesamt für Statistik; sie wurden für die Fragestellung aufbereitet und neu berechnet. Die wesentlichen Statistiken sind in Tabelle 1 dokumentiert.

Bayern soll in dieser Analyse nicht anderen Bundesländern vergleichend gegenübergestellt, sondern mit sich selbst verglichen werden. Weil es um die Darstellung einer Entwicklung geht, wird das Schuljahr 2008/09, also das letzte Jahr vor der Ratifizierung der UN-BRK, als Referenzjahr benutzt; die jeweiligen Veränderungen in den folgenden Schuljahren werden dann als prozentuale Abweichungen von diesem Ausgangsjahr dargestellt. Es handelt sich in der Sprache der Statistik um ipsative Messungen, um kontinuierliche Wiederholungsmessungen des gleichen Untersuchungsgegenstandes. Am Beispiel von Tabelle 1, Spalte 5 und 6: Im Schuljahr 2009/10 war die Zahl der Förderschüler*innen in Sonderschulen („Sonderschüler“) von 56.770 auf 56.149 gesunken; das sind 98,9 Prozent des Referenzjahres (= 100 Prozent).

Zur Vermeidung von Missverständnissen ist eine klare Terminologie unverzichtbar. Ich unterteile die Gesamtheit der Förderschüler*innen (= Schüler*innen mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf) in die beiden Teilgruppen „Inklusionsschüler“ (= Förderschüler*innen an allgemeinen Schulen) und „Sonderschüler“ (= Förderschüler*innen an Sonderschulen). Diese Begrifflichkeiten wurden ad hoc geprägt und haben nur für den anstehenden Untersuchungszusammenhang Bedeutung.

A bb. 1: Entwicklung der Schüler*innenzahlen von Förderschüler*innen in allgemeinen Schulen („Inklusionsschüler“) und in Sonderschulen („Sonderschüler“) in Bayern bezogen auf das Referenzjahr 2008/2009

Die Analyse soll mit einem Gesamteindruck beginnen und die zahlenmäßige Entwicklung aller „Inklusionsschüler“ und „Sonderschüler“ in ganz Bayern darstellen. Die Datenreihen hierzu finden sich in Tabelle 1, Spalte 4 und 6; die Abb. 1 gibt die beiden Datenreihen grafisch wieder.

Der erste Eindruck ist überwältigend positiv. Die eingangs formulierten Kriterien werden auf den ersten Blick vollauf erfüllt. Erstens geht die Anzahl der Förderschüler*innen in Sonderschulen („Sonderschüler“) kontinuierlich zurück. Damit wäre das erste Kriterium „Rückgang der Separation“ scheinbar erfüllt. Zweitens steigt die Anzahl der inkludierten Förderschüler*innen in allgemeinen Schulen („Inklusionsschüler“) kontinuierlich an, und zwar mit imponierenden Fortschrittssprüngen. Damit wäre auch dem zweiten Kriterium „Anstieg der Inklusion“ von Schüler*innen mit Behinderungen in beeindruckender Weise Genüge getan. Die Separationsquote sinkt, die Inklusionsquote steigt! Der erste Eindruck verspricht einen wunderbaren Traum, ein bayerisches Inklusionsmärchen, das schöner nicht sein könnte.

Der erste Eindruck ist leider, leider trügerisch. Wir müssen genauer hinschauen und kritisch nachfragen, ob erstens die Anzahl der Förderschüler*innen in Sonderschulen („Sonderschüler“) wirklich zurückgegangen ist, und zweitens, was man von dem imposanten Anstieg der Anzahl der Förderschüler*innen in allgemeinen Schulen („Inklusionsschüler“) zu halten hat.

2. Der Separationsstillstand

Die demografische Entwicklung ist in aller Munde. Die Deutschen werden immer weniger, und damit die Schüler*innen in allen Schulen und Schulformen natürlich auch. Just diese demografische Entwicklung gilt es auch bei der Analyse der Inklusionsentwicklung zu beachten, will man nicht einer demografiebedingten Täuschung aufsitzen.

Die Abb. 1 täuscht einen inklusionsbedingten Rückgang der Separation von „Sonderschülern“ vor, den es so nicht gegeben hat. Ausnahmslos alle Schulformen und -arten haben seit dem Referenzjahr 2008/09 einen demografiebedingten Rückgang der Schüler*innenzahlen hinnehmen müssen, und das gilt selbstverständlich auch für die „Sonderschule“!

Der Beweis kann erbracht werden durch einen Vergleich: Wie verläuft der Rückgang der Schüler*innenzahlen in den allgemeinen Schulen (Tabelle 1, Spalte 2) im Vergleich zum Schüler*innenrückgang in den Sonderschulen (Tabelle 1, Spalte 6)? Die Schüler*innenrückgänge in den beiden Populationen verlaufen völlig deckungsgleich. Die Differenzen zwischen den beiden Zahlenreihen sind so minimal, dass man sie nicht einmal grafisch abbilden kann. Diese nahezu perfekte Kongruenz der beiden Zahlenreihen nötigt eine ernüchternde Interpretation des vermeintlichen Rückgangs der „Sonderschüler“ auf, nämlich: Der Rückgang der Förderschüler*innen in Sonderschulen („Sonderschüler“) hat nichts, aber auch gar nichts mit einer wünschenswerten Minderung der Separation zu tun, sondern ist ausschließlich dem allgemeinen demografiebedingten Schüler*innenrückgang überhaupt zuzuschreiben! Die Förderschüler*innen in den Sonderschulen („Sonderschüler“) werden nicht wegen der Inklusion weniger, sondern einfach deshalb, weil das allerorten, in allen Schulen und in allen Schulformen absolut üblich und völlig normal ist.

 

Allgemeine Schulen

Förderschüler in Regelschulen

Förderschüler in Sonderschulen

Förderschüler Summe

 

Regelschüler

Inklusionsschüler

Sonderschüler

FS -Summe

Schuljahr

(1) abs.

(2) %

(3) abs.

(4) %

(5) abs.

(6) %

(7) abs.

(8) %

2008/09

1343648

100,0

11344

100,0

56770

100,0

68114

100,0

2009/10

1326696

98,7

10917

96,2

56149

98,9

67066

98,5

2010/11

1305523

97,2

14534

128,1

54914

96,7

69448

102,0

2011/12

1254448

93,4

16141

142,3

53495

94,2

69636

102,2

2012/13

1235680

92,0

18197

160,4

52680

92,8

70877

104,1

2013/14

1219834

90,8

19289

170,0

51623

90,9

70912

104,1

2014/15

1208654

90,0

19840

174,9

51309

90,4

71149

104,5

2015/16

1200812

89,4

20300

178,9

51019

89,9

71319

104,7

2016/17

1212714

90,3

19425,0

171,2

51338

90,4

70763,0

103,9

Tab. 1: Entwicklung der Schüler*innenzahlen in den allgemeinen Schulen („Regelschüler“), der Förderschüler*innen in Regelschulen („Inklusionsschüler“) und der Förderschüler*innen in Sonderschulen („Sonderschüler“). Die prozentualen Angaben wurden jeweils in Relation zum Referenzjahr 2008/09 berechnet.

Der erste analytische Befund lautet damit: Relativ werden in Bayern Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf trotz und nach der UN-BRK im gleichen Umfange aus allgemeinen Schulen ausgesondert und in Sonderschulen separiert wie vor der UN-BRK. Die sogenannte Inklusionsreform ist durch einen völligen Separationsstillstand gekennzeichnet. Separation as usual. Die Inklusionsreform ist an den Schüler*innen mit Behinderungen, für die sie doch eigentlich gedacht war, völlig vorbeigegangen.

Halten wir als evidenzbasiertes Faktum fest: Inklusion findet in Bayern bezogen auf das Kriterium „Minderung von Separation“ nicht statt! Bayern verfehlt in der Inklusionsreform das Kriterium „Rückgang von Separation“ vollständig, ohne jegliches Wenn und Aber. Als Trost kann immerhin gesagt werden, dass die gleiche Feststellung in ähnlicher Form für viele andere Bundesländer auch gilt, mit Ausnahme von Thüringen, Schleswig-Holstein und Bremen. Aber ist das wirklich eine ehrliche Tröstung, wenn man genauso schlecht ist wie viele andere auch (Klemm 2015)?

3. Die Etikettierungsschwemme

Der völlige Misserfolg bei dem ersten Kriterium „Rückgang der Separation“ ist ziemlich enttäuschend und ernüchternd. Dürfen wir uns nun wenigstens bei dem zweiten Kriterium „Anstieg der Inklusion“ ungetrübt und von ganzem Herzen freuen?

Wir müssen uns in Abb. 1. den Graphen der „Inklusionsschüler“ und in Tab. 1 die Zahlenreihen (3) und (4) genauer ansehen. Die Zahl der inkludierten Förderschüler*innen ist in der Tat in nahezu unfassbarer Weise angestiegen. Gegenüber dem Referenzjahr werden nun im letzten Erhebungsjahr 2016/17 über 9.000 zusätzliche „Inklusionsschüler“ (= Förderschüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen) gezählt. Die Population der „Inklusionsschüler“ wurde also in acht Schuljahren um satte 80 Prozent gesteigert. Da möchte man schon respektvoll den Hut ziehen, wäre da nicht der irritierende Befund, dass die Zahl der „Sonderschüler“ in den Förderschulen ja, wie unter 2.1 berichtet, relativ stabil geblieben ist und absolut nur um etwa 5.700 Schüler*innen abgenommen hat. Hier hat es offensichtlich nicht einen schlichten Austausch zwischen kommunizierenden Röhren gegeben. Das erstaunliche Plus an „Inklusionsschülern“ kann nicht durch das Minus an „Sonderschülern“ erklärt werden!

Woher kommen denn all die vielen neuen „Inklusionsschüler“? Weil die neuen „Inklusionsschüler“ nicht aus den Sonderschulen kommen können, gibt es für die rasante Vermehrung der „Inklusionsschüler“ nur eine mögliche Erklärung. Die neuen „Inklusionsschüler“ kommen aus den allgemeinen Schulen! Die neuen „Inklusionsschüler“ sind keine vormaligen Sonderschüler*innen, sondern in Wahrheit bisherige Regelschüler*innen!

In allen Klassen und Schulen gibt es bekanntlich „schwache“ Schüler*innen. In den PISA-Studien werden diese schwachen Schüler*innen „Risiko-Schüler*innen“ genannt, in der pädagogischen Alltagssprache heißen sie auch „Problem-Schüler*innen“ und die Empfehlungen der Bildungskommission aus dem Jahre 1973 (Deutscher Bildungsrat 1973) nannten diese schwachen Schüler*innen „von Behinderung bedroht“. Genau diese Risiko-Schüler*innen werden nun im Zuge der Inklusionsreform von der sonderpädagogischen Diagnostik als „Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ etikettiert. Die diagnostizierten Schüler*innen erhalten nun offiziell einen sonderpädagogischen Förderstatus. Sie werden aber nicht ausgesondert und an die Förderschulen adressiert, sondern sie verbleiben wie bisher weiter in den Regelschulen. Weil sie aber einen sonderpädagogischen Förderstatus haben, gelten sie nun als „Inklusionsschüler“, als inkludierte Förderschüler*innen. Weil die Umetikettierung der ehemaligen Risiko-Schüler*innen in „Inklusionsschüler“ relativ ungebremst, unkontrolliert und in großem Stil vonstattengeht, habe ich dieses Phänomen der Inklusionsreform „Etikettierungsschwemme“ genannt.

Das Fazit zu dem zweiten Kriterium „Zunahme von Inklusion“ lautet mithin: Die Inklusionszuwächse können nicht durch Separationsminderungen erklärt werden. Die neue Inklusion ist nicht eine wirkliche Mehrung von Inklusionsfällen, sondern sie resultiert aus der Umbenennung von schwachen Risiko-Schülern*innen in „Inklusionsschüler“. Es findet überhaupt keine nennenswerte Verschiebung von einstigen Sonderschüler*innen in allgemeine Schulen statt, sondern eine bekannte Population von schwachen Schüler*innen wird lediglich etikettiert und gleichsam umgetauft. Die Pointe der Etikettierungsschwemme besteht darin, dass angeblich Schüler*innen „inkludiert“ werden, die in Wirklichkeit auch schon vorher „inkludiert“ waren. Die progrediente Zunahme von Inklusionsfällen ist damit kein Beleg für Erfolge der Inklusionsreform, sondern über weite Strecken nichts weiter als eine inszenierte Inklusionssuggestion. Es hat sich im Grunde genommen nichts geändert. Die Schüler*innenschaft der neuen Regelschule ist im Wesentlichen die gleiche Schüler*innenschaft der alten Regelschule aus der Vorzeit der Inklusion. Progression der Inklusion? Oh nein, es ist aufs Ganze gesehen alles beim Alten geblieben.

4. Der Eigensinn der Förderschwerpunkte

Die verschiedenen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte wurden in der bisherigen Analyse als ein homogenes Kollektiv traktiert. Eine genauere Inspektion der statistischen Daten zeigt indes, dass die Förderschwerpunkte nicht alle über einen Kamm geschoren werden können und zwischen ihnen erhebliche Differenzen in der Entwicklung der Inklusionstendenzen bestehen.

Hypothetisch könnte man folgende Vermutungen anstellen: Das Bildungssystem wird die größte Inklusionsbereitschaft am ehesten gegenüber den sogenannten „weichen“ Behinderungen äußern. Folglich wird bei den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und Verhalten sowohl eine stärkere Minderung der Separation als auch eine stärkere Häufung von Etikettierungsprozessen zu beobachten sein. Die „härteren“ Behinderungen (Geistige Behinderung, Sehen, Hören, Körperlich-motorische Behinderung) sind durchweg mit medizinischen Korrelaten verbunden. Die Komorbidität mit medizinisch belangvollen Symptomatiken dürfte sich einer übergriffigen sonderpädagogischen Diagnostik eher widersetzen. Folglich sind bei den „härteren“ Behinderungen hypothetisch tendenziell eine geringere Etikettierungschance und eine zögerlichere Abnahme der Separation in Sonderschulen zu erwarten.

Die realen statistischen Daten sind höchst überraschend, weil sich die empirischen Entwicklungslinien völlig konträr zu den hypothetischen Erwartungen verhalten. Die Förderschwerpunkte können zu drei Clustern gebündelt werden. Die Entwicklungslinien der drei Cluster können aus Platzgründen nicht grafisch dargestellt, sondern müssen den Tabellen 2.1 und 2.2 entnommen werden.

 

Sehen

Geistige Entwicklung

Körperliche und
motorische Entwicklung

Emotionale und
soziale Entwicklung

Schuljahr

(1) AS

(2) FS

(3) AS

(4) FS

(5) AS

(6) FS

(7) AS

(8) FS

2008/09

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

2009/10

98,1

100,6

95,8

100,5

84,5

100,2

95,1

102,1

2010/11

112,4

101,1

116,3

100,2

143,3

100,4

128,1

105,0

2011/12

173,3

98,2

118,3

99,5

161,2

99,1

146,2

112,6

2012/13

168,6

96,9

162,7

97,7

193,9

100,1

164,8

117,5

2013/14

188,6

93,2

175,3

95,3

204,1

101,8

178,7

125,2

2014/15

193,3

91,5

199,6

94,5

220,8

99,7

186,4

129,5

2015/16

201,9

91,5

239,5

94,0

230,6

98,6

197,2

129,4

2016/17

212,4

91,4

253,2

95,9

235,5

98,2

188,7

124,3

Tab. 2.1: Entwicklungen der Inklusion und Separation in den Förderschwerpunkten Sehen, Geistige Entwicklung, Körperliche und motorische Entwicklung, Emotionale und soziale Entwicklung

 

Sprache

Lernen

Hören

Schuljahr

(9) AS

(10) FS

(11) AS

(12) FS

(13) AS

(14) FS

2008/09

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

2009/10

98,3

93,2

96,3

97,8

99,6

102,1

2010/11

112,7

90,1

124,9

95,2

337,2

102,7

2011/12

111,0

86,4

142,5

91,5

316,5

104,9

2012/13

124,9

82,6

160,3

91,5

333,3

98,6

2013/14

136,2

82,6

167,1

87,6

370,6

99,7

2014/15

132,3

80,4

171,7

85,6

387,4

101,0

2015/16

129,5

76,2

173,2

86,0

408,7

102,2

2016/17

127,5

71,8

163,3

87,4

387,0

99,8

Tab. 2.2: Entwicklungen der Inklusion und Separation in den Förderschwerpunkten Sprache, Lernen und Hören

Das erste Cluster wird ein wenig mit Vorschusslorbeeren bedacht und „Musterknaben“ genannt. Bei diesem Cluster nehmen den Reformzielen entsprechend die Anzahl der Inklusionsfälle zu und die Anzahl der verbleibenden Separationsfälle deutlich ab. Zu dem Cluster der inklusionspolitischen „Musterknaben“ zählen die Förderschwerpunkte „Lernen“ und „Sprache“ (Tab. 2.2, Spalten 9 und 10 sowie 11 und 12).

Das zweite Cluster wird mit der kritischen Vokabel „Wilderer“ belegt. Bei den Förderschwerpunkten dieses Clusters ist eine hohe Stabilität der Separation und zugleich in etwa eine Verdoppelung der Inklusionsschüler*innen in den allgemeinen Schulen zu beobachten. Angehörige des Clusters „Wilderer“ sind die Förderschwerpunkte Körperlich-motorische Entwicklung, Sehen, Geistige Entwicklung und Sozial-emotionale Entwicklung (Tabelle 2.1).

Das dritte Cluster erhält das vorwurfsvolle Attribut „Raubritter“. Die „Raubritter“ widersetzen sich den bildungspolitischen Imperativen der Inklusion völlig. Es gelingt ihnen nicht nur, die Anzahl der „Sonderschüler“ (= Förderschüler*innen in den Sonderschulen) zu stabilisieren, sondern obendrein noch die Anzahl der „Inklusionsschüler“ (= Förderschüler*innen in den allgemeinen Schulen) zu vervierfachen! Dieses extreme Negativmuster der „Raubritter“ wird durch den Förderschwerpunkt Hören repräsentiert (Tabelle 2.2, Spalten 13 und 14). Die diagnostische Vervierfachung von hörbeeinträchtigten Kindern in den Regelschulen kann schwerlich mit rationalen Argumenten begründet werden, sie ist in hohem Maße erklärungsbedürftig. Die wissenschaftliche Hörgeschädigtenpädagogik, die Schuladministration und die Förderschulen Hören sind gefordert, für Aufklärung zu sorgen. Es wäre zu prüfen, ob die theoretischen Konstrukte von Hörschädigungen (z.B. AVWS) wirklich tragfähig sind oder ob die gierigen diagnostischen Kriterien und Instrumente strikteren Vorgaben unterworfen werden müssen.

Die journalistischen Bezeichnungen „Wilderer“ und „Raubritter“ mögen Anstoß erregen; sie sollen durch ihre kritische Zuspitzung bewusst machen, dass die festgestellten Entwicklungen in keiner Weise mit den basalen Reformzielen der Inklusionspolitik (Minderung der Separation und Maximierung der Integration) vereinbar sind. Dies wird an späterer Stelle weiter zu begründen sein.

5. Erklärungen

Die Feststellung der Etikettierungsschwemme ist eine Sache objektiver, wissenschaftlicher Recherchen, ihre Deutung und Erklärung eine Angelegenheit begründbarer und diskursbedürftiger Interpretationen. Wie ist die explosionsartige Vermehrung von Inklusionsfällen, die wiederum nicht nur für Bayern, sondern für viele Bundesländer gilt, zu erklären? Ich biete vier Erklärungsversuche an (ausführlich in Wocken 2016):

1. Versagen der sonderpädagogischen Diagnostik

Die Etikettierungsschwemme weist auf ein krasses Versagen der sonderpädagogischen Diagnostik hin. Die sonderpädagogische Diagnostik hat nicht sonderpädagogische Förderbedarfe mit wissenschaftlicher Objektivität und Unbestechlichkeit festgestellt, sondern sie selbst produziert. Statt sich einzig und allein um die wissenschaftliche Belastbarkeit ihrer Befunde zu kümmern, hat sie standes- und bildungspolitische Interessen bedient. Die sonderpädagogische Diagnostik hat das Interesse der Sonderschulen an ihrer Selbsterhaltung und das Interesse der allgemeinen Schulen an zusätzlichen Ressourcen für sonderpädagogische Förderbedarfe bedient. Das durch die Etikettierungsschwemme belegte schwerwiegende Versagen wird die sonderpädagogische Diagnostik mit erheblichen Zweifeln an ihrem Selbstverständnis als einer unabhängigen, objektiven, wissenschaftlichen Disziplin bezahlen müssen.

2. Inklusionsprogression als Exzellenzausweis

Es ist mittlerweile in der Bildungspolitik, in den Schulverwaltungen und in den Schulen selbst angekommen, dass schulische Inklusion ein Gebot der Stunde und eine unabweisbare Aufgabe ist. Für die öffentliche Demonstration, dass man dieser Inklusionspflicht auch wirklich nachkommt, ist der Nachweis möglichst vieler Inklusionsfälle erforderlich. Hohe Inklusionsquoten und eine stattliche Anzahl von Inklusionsfällen sind ein Ausweis von inklusionspädagogischer Exzellenz und fördern das Image von Kultusministerien, Bildungspolitik und Schulen. Man muss ahnungsvoll befürchten, dass der Wettbewerb von Schulen und Bundesländern um möglichst hohe „Inklusionsquoten“ die ungezügelte diagnostische Wilderei weiter beflügeln und die Sonderpädagogisierung der allgemeinen Schule in irrationaler Weise vorantreiben wird.

3. Etikettierung ohne negative Folgen

Die diagnostische Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs war in vorinklusiven Zeiten bindend mit dem Zwang verknüpft, das „sonderschulbedürftige“ Kind in eine separierende Sonderschule einzuweisen. Weil seit der BRK eine verbindliche Förderschulpflicht konventionswidrig ist, hat die sonderpädagogische Diagnostik nun ihren Schrecken als Aussonderungsdiagnostik verloren. Die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs begründet, wie mittlerweile die Schulgesetze aller Bundesländer betonen, keine Pflicht zum Besuch einer Sonderschule. Eltern und Lehrer*innen haben neuerlich die entlastende Gewissheit, dass mit der diagnostischen Zuschreibung eines Förderbedarfs nicht notwendigerweise eine Aussonderung oder sonstige negative Folgen verknüpft sind. Weil keine Sanktionen und keine negativen Folgen mehr drohen, entfallen quälende Gewissensbisse und alle Hemmungen.

4. Etikette begründen Ressourcenansprüche

Statt negativer Folgen ist die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nun vielfach mit positiven Folgen, nämlich mit der Erwartung von zusätzlichen (sonder)pädagogischen Förderressourcen verbunden. Das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma will es so: Wer zusätzliche materielle und personelle Förderressourcen oder besondere pädagogische Förderbedingungen (Nachteilsausgleich u.a.) beanspruchen will, muss als Berechtigungsnachweis ein formelles Bedarfsetikett vorlegen können. Die sonderpädagogische Diagnostik hat ohne wissenschaftliche Skrupel die Funktion einer Ressourcenbeschaffungsdiagnostik übernommen.

6. Bewertungen

Die Bilanz der Inklusionsreform in Bayern (und manchen anderen Bundesländern) ist – aus meiner Sicht – desaströs. Die zentralen Indikatoren für die Negativbilanz sind der Separationsstillstand und die Etikettierungsschwemme. Wer große Hoffnungen in die Behindertenrechtskonvention gesetzt hat, muss angesichts der höchst unbefriedigenden Ergebnislage zutiefst enttäuscht sein. Es ist an der Zeit, die zivile und wissenschaftliche Contenance abzulegen und dem gerechten Zorn Ausdruck zu verleihen.

1. Separationsstillstand

Ein prioritäres Indiz für den Aufbau eines inklusiven Bildungswesens ist eine sukzessive Minimierung der Separation – dies gilt es nachdrücklich zu bekräftigen. Die Inklusionsreform in Bayern (und in anderen Bundesländern) hat es in acht Jahren nicht geschafft, dieses nicht unterschreitbare Minimalkriterium auch nur in geringfügigen Ansätzen zu erfüllen. Der Separationsstillstand ist ein Indiz für ein gebrochenes Versprechen, das die Inklusionspolitik der Behindertenrechtskonvention mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit gegeben hat. Die Schwächsten der Schwachen werden in den Sonderschulen zurückgelassen. Die Inklusionsreform geht an den wirklich Behinderten achtlos vorbei. Inklusion in Bayern ist eine Inklusion ohne Behinderte!

Mit einiger Bitternis darf man wohl eine geläufige Redensart abwandeln und sagen: Alle reden von Inklusion, aber die Behinderten haben nichts davon! Ich sage wohlüberlegt, mit voller Überzeugung und mit einem zornigen Aufschrei: Die Schüler*innen mit Behinderungen werden von der Inklusionsreform in Bayern um ihre Inklusion betrogen! Wer wirklich die Interessen von Schüler*innen mit Behinderungen zu vertreten beansprucht, wird kaum umhinkönnen, den totalen Separationsstillstand seit 2008/09 als ein Reformdesaster zu bewerten. Wenn Deutschland bei den PISA-Untersuchungen allenthalben im Mittelfeld landet, geraten wir in Panik. Wenn Deutschland aber bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention eine völkerrechtswidrige Bilanz vorlegt, regt sich niemand auf.

2. Etikettierungsschwemme

Die Etikettierungsschwemme ist nicht mit der gewünschten Zunahme von Inklusion gleichzusetzen! Die Etikettierungsschwemme steht vielmehr für eine beispiellose, inakzeptable Inflationierung der Förderbedarfe. Für eine derartige Überflutung der allgemeinen Schulen mit sonderpädagogischen Förderbedarfen gibt es keinerlei rationale Rechtfertigungen. Es sind keine medizinischen Katastrophen nach Art des Contergan-Skandals bekannt, die ein explosionsartiges Ansteigen von Förderbedarfen bei den „harten“ Förderschwerpunkten erklären und rechtfertigen könnten.

Die exzessive Zuerkennung von sonderpädagogischen Förderbedarfen an Risiko-Schüler*innen der Regelschule kann ambivalent bewertet werden. Ein möglicher positiver Effekt könnte die Prävention von Aussonderung sein. Die schwachen Schüler*innen in den Regelschulen, also die Problem- und Risiko-Schüler*innen könnten von der präventiven Förderung, die durch die Attribuierung eines Förderbedarfs ausgelöst wird, profitieren. Ein erheblicher Anteil der zusätzlichen Ressourcen, die von vielen Bundesländern ohne alle Frage für Inklusion aufgebracht werden, wandert in die allgemeinen Schulen. Die zusätzlichen Ressourcen landen bei den Risiko-Kindern, was ihnen durchaus gegönnt sei. Aber sie gehen damit zugleich an den behinderten Schüler*innen in den Sonderschulen vorbei.

Das Präventionsmotiv verdient durchaus Anerkennung und Akzeptanz. Aber: Die ungebremste, leichtfertige Vergabe von Statusetiketten an Schüler*innen der Regelschule reflektiert nicht die stigmatisierenden, schädlichen Wirkungen, die mit der Vergabe von diskriminierenden Etiketten verbunden sein können. Inklusion erweist sich in einer sparsamen Verwendung von Behinderungsetiketten und zielt auf eine weitest mögliche Dekategorisierung. Das Puschen der Inklusionsquote täuscht falsche Tatsachen vor und will glauben machen, dass die Bildungspolitik ihrer Inklusionspflicht nachkommt. Die inklusionspolitische Propaganda rechtfertigt nicht das fragwürdige Mittel, dass „von Behinderung bedrohte“ Schüler*innen in den Regelschulen zum Freiwild diagnostischer Wilderei erklärt werden.

Die Idee der Inklusion zielt darauf ab, den Toleranzspielraum der Normalität zu erweitern und menschliche Verschiedenheit als Normalität zu respektieren. Es kann nicht angehen, dass Schüler*innen in großen Scharen diagnostisch gescannt und als defizitär gelabelt werden. Die sonderpädagogische Diagnostik darf nicht als eine Reihenuntersuchung etabliert werden.

3. Ideologische Realitätsverzerrung

Die ungeliebte Inklusion verschafft sich in jüngerer Zeit vermehrt und lautstark Gehör durch Klagen über unzureichende Ressourcen und viel zu viele „schwierige“ Schüler*innen. Der öffentliche Diskurs suggeriert mitunter einen fortschreitenden Exodus behinderter Schüler*innen aus den Sonderschulen und ihre scharenweise Immigration in allgemeine Schulen. Dieser Verzerrung der wirklichen Inklusionsverhältnisse muss nachhaltig widersprochen werden. Die offiziellen Statistiken der Bundesländer und der Bundesrepublik widersprechen dieser Schwarzmalerei. Der Separationsstillstand und die Etikettierungsschwemme sprechen eine andere Sprache. Regelschulen und Sonderschulen haben heute mit geringfügigen Änderungen im Wesentlichen die gleichen Schüler*innen wie in vorinklusiven Zeiten auch! Die Klagen, die manche Eltern- und Lehrer*innenverbände führen, sind empirisch nicht belegbar; es sind falsche Tatsachenbehauptungen, pure Ideologie und unverantwortliche Stimmungsmache.

Das laute Wehklagen, dass Inklusion angeblich das deutsche Bildungssystem „ruiniert“ (Felten 2017), spielt der konservativen Bildungspolitik in die Hände. Die Vertreter*innen eines gegliederten Schulwesens in der Politik und in den Schulen, unter Lehrer*innen und Eltern warten auf schlechte Nachrichten über Inklusion. Sie sehen sich durch schlechte Nachrichten bestätigt, dass die ungeliebte Inklusion nicht rund läuft und so nicht geht. Der schlechte Leumund der Inklusion ist mittlerweile eine probate Munition für antiinklusive Wahlkämpfe und ein willkommener Vorwand, die Inklusionsreform zu drosseln oder zurückzufahren.

Exemplarische Fälle für eine unbefriedigende Inklusion, die es zugestandenermaßen durchaus auch gibt, dürfen nicht verallgemeinert werden. Dramatisierende Darstellungen von fehlerhaften und unvollkommenen Inklusionszuständen, die durchaus authentische Wahrheit für sich beanspruchen können, bedürfen einer relativierenden Einschränkung ihres Geltungsanspruchs. Eine als seriös geltende Tageszeitung sollte nicht schon deshalb für ein Buch eine Gefälligkeitsrezension verfassen, weil dieses Buch – wie die Zeitung ja auch – gegen Inklusion wettert und agitiert (Schmoll 2017). Meinungsumfragen, die von Lehrer*innengewerkschaften aus Gründen einer legitimen Verfolgung berufsständischer Interessen in Auftrag gegeben werden, präsentieren zwar Stimmungen, aber keine realwissenschaftlichen Fakten.

Das öffentliche Image der Inklusion wird derzeit in erheblichem Maße von antiinklusiven Einstellungen und antiinklusiven Interessen geprägt, die sich über jegliche wissenschaftliche Redlichkeit hinwegsetzen. Es ist sehr bedauerlich, dass der Kampf gegen Inklusion mit populistischen Fakes geführt wird. Es ist notwendig, Eltern- und Lehrer*innenverbände zu wissenschaftlicher Redlichkeit zu ermahnen. Nicht die Inklusion ruiniert das Bildungswesen, wie die konservative Inklusionskritik behauptet, sondern das gegliederte Schulwesen selbst ist den empirischen Nachweis seiner vorgeblichen Exzellenz schuldig geblieben. Das deutsche Bildungssystem hat in PISA 2000 und 2003 weit vor jeglicher Inklusion im internationalen Vergleich schlecht abgeschnitten. Die Misere des gegliederten Bildungssystems nun der Inklusion anzulasten, entspringt einer durchsichtigen Suche nach einem Sündenbock.

4. Sonderpädagogisierung des Bildungswesens

Beim Start der Inklusionsreform wurde gemunkelt und orakelt, die Inklusion werde einen Niedergang der Sonderpädagogik herbeiführen und insbesondere für die Sonderschulen das Sterbeglöcklein läuten. Von diesen düsteren Ahnungen und Prophetien ist rundherum nach achtjähriger Reformdauer nichts zu sehen und nichts wahr geworden. Das Sonderschulwesen in Bayern (und in manch anderen Bundesländern) steht nahezu ungeschmälert und unangetastet da. Die bayerische Bildungspolitik und der bayerische Aktionsplan haben allen Sonderschulen und allen Sonderschularten eine unbefristete Bestandsgarantie ausgestellt. Der stabile Separationsstillstand ist kein Zufall, sondern politisch gewollt und akzeptiert; er ist die konsequente empirische Folge einer im Wortsinne konservierenden Separationspolitik.

Das Territorium der Sonderpädagogik ist durch Inklusion wahrlich nicht kleiner, sondern im Gegenteil sogar größer geworden. Durch die Etikettierungsschwemme, an der die sonderpädagogische Diagnostik ja kräftig mitgewirkt hat, hat sich die Sonderpädagogik zudem neue Arbeitsfelder und Zuständigkeitsreviere erschlossen. Das gesamte Reich der Sonderpädagogik ist durch eine ungezügelte und ungebremste Etikettierungsdiagnostik in einem ungeahnten Ausmaß gewachsen.

Ein Ende der Expansion sonderpädagogischer Reviere ist derzeit noch nicht in Sicht, aber es wird unvermeidlich kommen. Nicht Vernunft und weise Selbstbeschränkung werden dem progredienten Ausbau der Sonderpädagogik Grenzen setzen, sondern harte Realitäten und endliche Finanzen. Schon jetzt mangelt es in Bayern wie auch in anderen Bundesländern an Sonderpädagog*innen; wie der erwartbare Mangel an Sonderpädagog*innen aufgefangen werden soll, ist nicht in Sicht. Und eine Inklusionsreform, die nach bayerischem Muster als ein Parallelsystem von Inklusion und Separation betrieben wird, kostet Geld, sehr viel Geld. Dass auch im sehr reichen Bayern die Gelder für die Erhaltung und den Ausbau des Doppelsystems von Inklusion und Separation knapper werden, bekommen schon jetzt etwa jene Schulen zu spüren, die vom Kultusministerium als „Schule mit dem Schulprofil Inklusion“ ausgezeichnet werden. Diesen Schulen wird zwar in einem feierlichen, pressewirksamen Akt die Urkunde „Schulprofil Inklusion“ überreicht, aber auf zusätzliche personelle Ressourcen für ihre inklusionspädagogische Pionierarbeit dürfen sie nicht hoffen. Es ist nicht unrealistisch anzunehmen, dass sich die restriktiven Tendenzen in der Inklusionsfinanzierung fortsetzen werden. Zu befürchten ist, dass für die Expansion der Sonderpädagogik in die allgemeinen Schulen letztlich dann eine karg ausgestattete Inklusion allein bezahlen muss.

Die Inklusionsreform steht in Bayern erst ganz am Anfang, ja sie hat noch nicht einmal ernsthaft begonnen. Die Gleichzeitigkeit von Separationsstillstand und Etikettierungsschwemme beschwört unweigerlich zunehmende finanzielle Engpässe herauf, die für beide Systeme empfindliche Qualitätseinbußen zur Folge haben werden. Die notwendigen Maßnahmen einer unerlässlichen Umsteuerung der bayerischen Inklusionspolitik liegen auf der Hand. Sie heißen erstens kontrollierte Begrenzung der Zuschreibung von sonderpädagogischen Förderbedarfen in den allgemeinen Schulen und zweitens ein konsequenter und planvoller Rückbau der Separation von Schüler*innen in Sonderschulen. Ohne eine Beendigung der Etikettierungsschwemme und ohne eine Beendigung des Separationsstillstandes wird es mit der Inklusion in Bayern (und in anderen Bundesländern) nicht weitergehen.

Literatur

[CRPD 2015] Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (o.J.): Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands. Dreizehnte Tagung 25. März - 17. April 2015 : In: www.deutsches-institut-fuer-menschenrechte.de/…

Deutscher Bildungsrat (1973): Empfehlungen der Bildungskommission. Zur pädagogischen Förderung Behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder und Jugendlicher. Bonn: Klett

Felten, Michael (2017): Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus

Klemm, Klaus (2015): Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten. Gütersloh: Bertelsmann

Schmoll, Heike (2017): Wie man sich von aller schulpolitischen Vernunft verabschieden kann. : www.plus.faz.net/…

Wocken, Hans (2014): Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme. Hamburg: Feldhaus Verlag

Wocken, Hans (2016): Die verführerische Faszination der Inklusionsquote. Ein Aufschrei gegen die Etikettierungsschwemme und den Separationsstillstand. In: Wocken, Hans: Am Haus der inklusiven Schule. Anbauten - Anlagen - Haltestellen. Hamburg: Feldhaus Verlag , S. 45-65

Prof. Dr. Hans Wocken
hans-wocken@t-online.de