Zum Inhalt springen

Unsere Sprache(n) sprechen

Offizielle Sprach- und Zugehörigkeitspolitiken in der Migrationsgesellschaft

Seit etwa acht Jahren steht der Begriff ‚Einwanderungsland‘ dem offiziellen Sprachgebrauch in Deutschland zur Verfügung. Anders als zuvor ist es nunmehr legitim, gesellschaftliche Wirklichkeit mit Hilfe dieser Vokabel zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wird verstärkt auch die Benachteiligung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund in und durch das System formaler Bildung thematisiert. Nach Jahrzehnten weitest gehender Ignoranz hat die mediale Inszenierung der Ergebnisse internationaler Bildungsvergleichsstudien die Öffentlichkeit für die in Deutschland besonders enge Koppelung von sozialer sowie ethnischer Herkunft und dem Abschneiden in formalen Bildungsabläufen nicht nur sensibilisiert, sondern geradezu beunruhigt.
Im Zuge dieser Beunruhigung kommt dem Thema „Sprache“ eine außerordentlich große diskursive Bedeutung zu. Man spricht über die deutsche Sprache, die Sprachen der als Andere Geltenden, über die anderen Sprachen, über die Frage, wie mit diesen anderen Sprachen umzugehen sei, ob sie in Räumen in Deutschland, die dadurch zu deutschen Räumen werden (sollen), zu verbieten sind oder ob es keine Gefahr, keinen unangemessenen Aufwand (an Personal und Sachmitteln) oder gar ob es ein erstrebenswertes Gut darstelle und pädagogisch sinnvoll sei, die anderen Sprachen anzuerkennen.
Es wird also über die Sprachen der ‚MigrantInnen‘, der „Menschen mit Migrationshintergrund“, über die Sprachen natio-ethno-lingual Anderer in Relation zum Kriterium Deutsch-Sprechen-Können und damit sehr schnell über Mängel und - mit einem defizitären Ausdruck - über sogenannte Sprachdefizite gesprochen. Spiegelbildlich wird zunehmend, zumindest in der pädagogischen Fachdiskussion, über Mehrsprachigkeit und die Erfordernis mehr- und zweisprachiger Ansätze in den Schulen und in der Ausbildung zukünftiger LehrerInnen gesprochen sowie über die sogenannte ‚Sprache der Schule‘, die Bildungssprache. Dabei werden die Mängel nicht der natio-ethno-lingual Anderen, sondern jene der deutschen Schule thematisiert, die erst allmählich beginnt, didaktische Konzepte zur Vermittlung der für den Schulerfolg erforderlichen Bildungssprache unter faktischen Bedingungen einer Migrationsgesellschaft, also unter Bedingungen der Mehrsprachigkeit, zu entwickeln und dadurch zu einer Schule in Deutschland wird.
Das seit dem medialen PISA-Hype unablässige Sprechen über die Sprache der Anderen, über das Erfordernis, dass sie die deutsche Sprache erlernen sollen und müssen und über die Frage auf der anderen Seite, ob es nicht die Schule in Deutschland ist, die neue Sprachen zu erlernen habe, hat einen diskursiven Kern: In der Auseinandersetzung um andere Sprachen geht es um die Frage, wer „wir“ sind, um die Frage, nicht nur welche Sprache(n) wir sprechen, sondern auch, aufgrund welcher Sprache(n) wir uns konstituieren, welche Sprache also gewissermaßen uns spricht, welche Sprache uns gewissermaßen besprechen darf.  
In der politischen und alltagsweltlichen Diskussion um das Thema Migration, etwa um die „Sprachdefizite“ der Anderen, geht es immer auch darum, wie eine nationalstaatliche Gesellschaft ihre unter anderem über Sprache(n) definierte und imaginierte, symbolische Grenze festlegt und wie sie innerhalb dieser Grenze mit Differenz, Heterogenität und Ungleichheit umgeht. Durch Migration werden Zugehörigkeitsverhältnisse befragt; sie werden brüchig und schwach, zugleich gestärkt und gesichert.

Schule produziert (il)legitime Sprachen und Zugehörigkeiten

In der Auseinandersetzung um Sprache geht es also immer um mehr als bloß „technische“ Fragen. Es geht in einem sehr grundsätzlichen Sinne um Zugehörigkeiten und Identitäten. Im Disput über die Sprache(n), die als legitime Sprache(n) der Migrationsgesellschaft gilt (gelten), artikuliert sich ein Kampf um Zugehörigkeiten: Wer gehört zu uns? Aber noch viel mehr: Wer sind wir? Sind wir auch die, die in erster Linie Russisch sprechen? Sind wir auch die, die eine Art Deutsch-Türkisch sprechen? Sich mit dieser Eingebundenheit in die Machtbeziehungen auseinanderzusetzen, ist für den Umgang mit Sprachen in Bildungsinstitutionen bedeutsam. Denn die Schule ist die Institution, die die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der Kinder und Jugendlichen auf differenzielle Weise anspricht, aufnimmt oder auch ignoriert. Schließlich überführt sie die Sprachpraxen ihrer Schüler in unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Positionen. Die Schule kann dabei gesellschaftliche Ungleichheiten re-produzieren oder - so der Anspruch jedes pluralistisch-demokratischen Bildungswesens - bestrebt sein, sie zu überwinden.

Die sprachenbewusste und diskriminierungskritische Schule

Durch ihren Auftrag steht die Institution Schule immer schon in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch gesellschaftlicher Reproduktion und dem Anspruch der individuellen Handlungsbefähigung ihrer SchülerInnen. Eine Schule, die ihr Ziel, individuelle Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen zu sichern und zu erweitern, ernst nimmt, muss erkennen, dass die von ihr zu reproduzierende Gesellschaft nicht einsprachig ist. Auch die SchülerInnen tragen immer schon ihre eigenen Sprechweisen und ihre unterschiedlichen Sprachen mit in die Schule hinein. Das Problem, so könnte man es ironisch formulieren, dem sich die Schule mit ihren Konzepten und Kompetenzen gegenübersieht, besteht darin, dass die Schüler „Gesellschaft“ in die Schule einbringen. Es ist daher eine ideologische Vereinfachung, wenn gesellschaftliche Reproduktion und individuelle Handlungsbefähigung als Gegensätze gesehen werden.
Die Institution Schule ist gefordert, konzeptionell zu klären, wie sie Sprache versteht und wie ihr Unterricht Sprachvermittlung pädagogisch und didaktisch umsetzt. Ohne Sprache und das Vermögen, sich mitzuteilen wie dabei die Erfahrung zu machen, erkannt und anerkannt zu werden, ist die individuelle Handlungsfähigkeit zumindest bedroht und infrage gestellt. Für die pädagogische Beziehung, die zwischen den Lehrkräften und den SchülerInnen aufzubauen ist, bedeutet dies, Sprache nicht ausschließlich und verkürzt in ihrer instrumentellen Eigenschaft zu verstehen. PädagogInnen einer sich sprachenbewusst verstehenden Schule in der multilingualen Migrationsgesellschaft müssen berücksichtigen, welche Bedeutung die Sprache für den Subjektstatus derer hat, die dieser Sprache mächtig sind und über das Sprachvermögen sowohl soziale Anerkennung finden als auch zu sozialem Handeln befähigt werden.
In den Sprachverhältnissen der Schule wirken gesellschaftliche Dominanzverhältnisse. Dies geschieht nicht im Sinne einer einfachen Reproduktion, sondern durch Aushandlungsprozesse, welche - durch den institutionellen Rahmen geformt und beispielsweise durch die Bedingungen des hoch selektiven deutschen Schulsystems häufig genug überformt - in den Interaktionen zwischen PädagogInnen und SchülerInnen oder auch deren Eltern stattfinden. Sogenannte Sprachstandserhebungen, die bei Kindern, deren erste Sprache nicht Deutsch ist, allein den Sprachstand im Deutschen erheben, sind diagnostisch nicht nur fragwürdig, sondern Instrument und Ausdruck eines hegemonialen Wir und konkrete Praxis der Respektlosigkeit und Missachtung.
Nach dem Grundgesetz ist die deutsche Sprache nicht konstitutiv für die Bundesrepublik Deutschland, doch kennt das Grundgesetz in Artikel 3 ein Verbot der Bevorzugung oder Benachteiligung von Menschen aufgrund ihrer Sprache. Es ergibt sich die Notwendigkeit, eine sprachenbewusste und diskriminierungskritische Perspektive in der Schule der multilingualen Migrationsgesellschaft miteinander zu verbinden: Schulen müssen Bedingungen bereitstellen, die ihren SchülerInnen Gelegenheit geben, ihre Erstsprache und ihre Zweitsprache für ihr Lernen und eine gleichberechtigte Teilhabe an Bildungsprozessen zu nutzen. Das Gebot umfassender gesellschaftlicher Partizipation verlangt, dass Schulen curriculare und didaktische Anstrengungen unternehmen, Deutsch als Bildungssprache fortlaufend als Bestandteil des Fachunterrichts zu vermitteln. Unter diskriminierungskritischer Perspektive ist es aber auch erforderlich, dass Schulen trotz der Vermittlung der Bildungssprache und ihrer normativen Schriftlichkeit als Voraussetzung für Bildungserfolg die potenziell diskriminierbare Unterscheidung unterschiedlicher Sprachpraxen, verschiedener Sprachen und mehrerer Varianten von Schriftsprachgebrauch, die Bestandteil der Lebenswelten ihrer SchülerInnen sind, immer wieder kritisch hinterfragen und dadurch einen Beitrag zu gerechteren Verhältnissen leisten.
So können beispielsweise Grenzziehungen zwischen einsprachig und zweisprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen gezogen oder aber überwunden werden und Zweisprachigkeit kann in der Schule als ‚Normalität‘ gestaltet oder aber ausgeblendet werden. Unter einer sprachenbewussten und diskriminierungskritischen Perspektive und unter Einbezug der Überlegungen zu dem übergeordneten Ziel einer umfassenden Handlungsbefähigung steht die Schule vor der Herausforderung, den pädagogischen Raum aktiv so zu gestalten, dass ihre zweisprachig aufwachsenden SchülerInnen ihre Lebenswirklichkeit auch in der Schule als ‚Normalität‘ wahrgenommen und respektiert sehen.
Systematische Kenntnisse und didaktische Kompetenzen bezogen auf individuelle Sprachlagen, in denen Deutsch nicht die Erstsprache ist und als Zweitsprache erworben wird, sowie die Vermittlung von Sprachkenntnissen nicht nur in Deutsch und Englisch, sondern auch in einer der weiteren größeren oder kleineren Sprachen, die in Deutschland gesprochen werden und eine soziale Spur hinterlassen haben, wären Aspekte einer LehrerInnenausbildung, der eine andere als eine nationale Sprach- und Zugehörigkeitspolitik zugrunde liegt.

von Prof. Dr. Paul Mecheril, Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck und Thomas Quehl, Grundschullehrer in Duisburg mit den Arbeitsschwerpunkten Zweitsprachendidaktik und rassismuskritische Schulpädagogik.Gemeinsame Veröffentlichung: Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule (2008). Aktuelle Veröffentlichung von Mecheril u.a.: Bachelor/Master: Migrationspädagogik (2010).