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Stellungnahme der GEW Bayern zum Lehrplanentwurf LehrplanPLUS Realschulen

Die GEW Bayern bezieht zur Anhörung vom 15. Oktober 2015 wie folgt Stellung:

1. Kompetenzorientierung und Bildungs- und Erziehungsziele

Es ist positiv zu werten, dass sich der Lehrplan PLUS nicht nur dem Kompetenzerwerb verschrieben hat, sondern auch – insbesondere in den allgemeinen Kapiteln „Schulart- und fächerübergreifenden Bildungs- und Erziehungsziele sowie Alltagskompetenz und Lebensökonomie“ und „Bildungs- und Erziehungsauftrag der Realschule“ – weitere Bildungs- und Erziehungsziele kennt und benennt, wie z. B. die Entwicklung einer ganzheitlich gebildeten Persönlichkeit, Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, Zugänge zu Kunst und Kultur zu schaffen sowie zum eigenen künstlerischen Potenzial, die Bildung eines differenzierten ästhetischen Wahrnehmens, Erlebens und Gestaltens als Bereicherung des Lebens und der eigenen Persönlichkeit und vieles mehr. Noch deutlicher zu profilieren wären aus unserer Sicht allerdings Bildungsziele wie Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit, Mündigkeit und Urteilsfähigkeit.

Im Kapitel „Schulart- und fächerübergreifende Bildungs- und Erziehungsziele sowie Alltagskom-petenz und Lebensökonomie“ wurden Themenbereiche im Vergleich zu den Kapiteln „Fächerüber-greifende Bildungs- und Erziehungsaufgaben“ und „Bildungs- und Erziehungsschwerpunkte an der sechsstufigen Realschule“ im derzeit gültigen Lehrplan gekürzt. Dies erscheint uns nicht in jedem Falle sinnvoll. Insbesondere nimmt der Themenbereich „Bildung für Nachhaltige Entwicklung (Umweltbildung, Globales Lernen)“ einen viel zu geringen Stellenwert ein (siehe nächstes Kapitel). Zudem fehlt hier ein wichtiger Zusatz zur Umwelt als gestalteter Kulturraum, der sich im aktuellen Lehrplan (S. 38) wiederfindet: „Zur Umwelt gehört aber auch der über Jahrtausende von Menschen gestaltete Kulturraum mit seinen Denkmälern der Kunst, der Geschichte und der Natur, die es zu schützen und pflegen gilt.“ Ebenso sollte auch der Hinweis auf die Herstellung „lokaler und aktueller Bezüge zur engeren Heimat“ (S. 38) aufgenommen werden, zumal Kenntnis der Heimat beim Punkt „Kulturelle und interkulturelle Erziehung“ – dies ist im gültigen Lehrplan noch enthalten (S. 16) - fallen gelassen wurde.

Selbstverständlich betrachten auch wir viele der im Lehrplan angeführten Kompetenzen, die „stets konkrete Anwendungssituationen im Blick“ („LehrplanPLUS, 1. Das Konzept von LehrplanPLUS“) haben, als sinnvoll. Problematisch wäre es jedoch, die Kompetenzorientierung zum alleinigen Maß-stab zu machen, da dies einem Verfehlen des Bildungsziels einer ganzheitlich gebildeten Persönlich-keit gleichkäme. Man erkennt an etlichen Stellen allerdings, dass das Bemühen um Kompetenz-orientierung immer wieder auch die allgemeinen  Bildungs- und Erziehungsziele in den Hintergrund treten lässt, beziehungsweise Unterrichtsinhalte in ein Korsett zwingt, das der Sache nicht unbedingt dienlich ist. Auch wenn dies der Verpflichtung geschuldet sein mag, die im Wesentlichen auf Kom-petenzerwerb ausgerichteten Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz aufzunehmen, so meinen wir, dass an manchen Stellen, wie weiter unten an Beispielen ausgeführt wird, eine weniger konsequente Umsetzung der Kompetenzorientierung dem Erziehungs- und Bildungsauftrag näher käme. Im Übrigen stellt sich immer wieder auch der Eindruck ein, dass letztlich alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert wird. Grundlegende wissenschaftliche  Kritik an einseitiger Kompetenz-orientierung gibt es von verschiedenen Seiten, beispielhaft sei hier auf die Artikel von Jochen Krautz, „Kompetenzen machen unmündig“ (Hg. GEW Berlin, Juni 2015) und Konrad Paul Liessmann, „Das Verschwinden des Wissens“ (in : Neue Züricher Zeitung vom 15.2.2014) verwiesen. Krautz führt in seinem Aufsatz auch aus, dass der Kompetenzbegriff wissenschaftlich noch ungeklärt sei.

Wenn im Kapitel „Bildungs- und Erziehungsauftrag der Realschule“ unter der Überschrift „3.3. „Überfachliche Kompetenzen“ z. B. Kreativität und Toleranz aufgeführt werden, dann werden die Begriffe letztlich auf Anwendung und Handeln verengt, auf die Fähigkeit, „sich auf neue Situationen – sei es im privaten, im gesellschaftlichen oder im beruflichen Leben -  flexibel und erfolgreich einzustellen“. Sie zielen aber begrifflich auf umfassendere Dinge, die auch das Selbstverständnis, die Individualität, die Neugier etc. thematisch mit erfassen. Im Übrigen wurden hier die Begriffe „grundlegende Einstellungen und Haltungen“ aus dem aktuellen Lehrplan nur durch die Begriffe „Methoden-, Personal- und Sozialkompetenz“ und „überfachliche Kompetenzen“ ersetzt. Bei den „Grundlegenden Kompetenzen Englisch 6. Jahrgangsstufe“ wird festgestellt, dass „durch die aktive Beschäftigung mit verschiedenartigen altersgemäßen Texten […] die Schülerinnen und Schüler Freude am Lesen und am kreativen Umgang mit gestalterischen Mitteln [erfahren], u. a. indem sie Dialoge gestaltend vortragen und einfache eigene Texte (z. B. Fortsetzungen einfacher Geschichten) erstellen“. Dieses zweifellos wichtige Bildungsziel, Freude am Lesen zu wecken, ist aber keine Kompetenz!

Im Grunde genommen sind die fachspezifischen Kompetenzen, die es zusätzlich für jedes Fach zu jedem Fachlehrplan für jede Jahrgangsstufe gibt, entbehrlich. Sie enthalten große inhaltliche Überschneidungen mit den Fachlehrplänen (so z. B. im Fach Englisch), die aber ausführlicher und konkreter und deshalb nützlicher sind. Wer den Fachlehrplan im Kopf hat, braucht die grundlegenden Kompetenzen nicht mehr. Auch wegen des Umfangs des Lehrplans wäre es wünschenswert, diese zu streichen.

Durch eine allzu einseitige Ausrichtung an Kompetenzen können Inhalte tatsächlich mehr oder weniger verschwinden. Dies zeigt sich gelegentlich auch jetzt schon im Unterrichtsalltag, wie am Beispiel des Faches Englisch verdeutlicht werden soll.

Bei der Sprechfertigkeitsprüfung der Abschlussprüfung sollen Schüler/innen u. a. ein Bild beschreiben und dabei die richtigen Redemittel anwenden. Die Fotos zeigen häufig banale Alltagssituationen, die inhaltlich meist wenig hergeben und die die Schüler/innen deshalb auch nur plakativ beschreiben können. Hier begnügt man sich mit der Anwendung der richtigen Redemittel (in the picture I can see, in the foreground /background, Verwendung des present progressive, etc.). Mit solch sinnfreien Bildbeschreibungen anhand gelernter Sprachmittel wird darauf verzichtet, Sinn– und Lebens-zusammenhänge zu schaffen. Kostbare Unterrichtszeit bleibt aber im Hinblick auf die Vermittlung wichtiger Themen wie z. B. Umwelt (siehe nächster Punkt) ungenutzt. [1]

Solches Verschenken inhaltlicher und thematischer Möglichkeiten sollte in Zukunft unbedingt vermieden werden. Es wäre deshalb sehr wünschenswert, dass der neue Lehrplan hier entsprechend gegensteuert.

Auch beim Leseverständnis zeigt sich teilweise eine ziemliche Verengung des Begriffes, denn das Zuordnen von Abschnitten oder Überschriften, Einfügen vorgegebener Sätze etc. ist nicht mit einem tieferen Textverständnis und der dadurch ermöglichten Sinnfindung und Orientierung gleichzusetzen. Gerade solche Erfahrungen wären aber für Jugendliche, die u. a. über Medien einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt sind, wichtig. 

 

2. Bildung für nachhaltige Entwicklung (Umweltbildung, Globales Lernen)

Diesem Themenkomplex[2] wird leider keine seiner Tragweite und Dringlichkeit angemessene Bedeutung zuteil. Dies wird vor dem Hintergrund u. a.  folgender Tatsachen deutlich:

- der Klimawandel führt in manchen Ländern zu verheerenden Auswirkungen

-  mittlerweile sind weltweit Millionen von Menschen vor dem Klimawandel auf der Flucht

- würde die gesamte Weltbevölkerung einen so gigantischen Ressourcenverbrauch wie in den westlichen Industrieländern haben, bräuchten wir mindestens 2 - 3 Planeten

- die CO2-Emissionen pro Kopf betragen in Deutschland ca. 9,5 Tonnen pro Jahr, dürften aber bei nachhaltigem Wirtschaften nicht mehr als 2 - 3 Tonnen betragen.

Auch hier wird manches, ohne erkennbaren Gewinn, in das Kompetenzschema gepresst. So heißt es:

„ Im Rahmen einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung entwickeln Schülerinnen und Schüler Kompetenzen, die sie befähigen, nachhaltige Entwicklungen als solche zu erkennen und aktiv mitzugestalten.“ 

Um nachhaltige Entwicklungen erkennen zu können, bedarf es aber zunächst in den einzelnen Bereichen auch fundierter Kenntnisse zum Beispiel über die CO2-Emissionen des Verkehrs, zu unserem Konsum etc. Dies ist aber keine Kompetenz, sondern eben Wissen (was noch nichts darüber aussagt, wie es erworben wird). Und Erkenntnis, in diesem Fall in Bezug auf nachhaltige Entwicklung, ist ebenfalls nicht unter dem Begriff der Kompetenz zu fassen.

Als durchaus wichtiges Bildungsziel wäre bei diesem Kapitel explizit auch die Erziehung zum konsum-kritischen Hinterfragen der eigenen Lebensgewohnheiten zu erwähnen (ökologischer Fußabdruck, Ressourcenverbrauch) sowie die Beschäftigung mit den Möglichkeiten des ethischen / fairen Einkaufs. Auch hier ist eine besondere Dringlichkeit gegeben:  Der weltweite Handel und die Konsumbedürfnisse hierzulande erzeugen in vielen ärmeren Ländern Armut und Elend und schaffen Fluchtursachen.  Unfälle wie der Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch im April 2013 oder die Selbstmorde bei Angestellten von Foxconn, einer der weltweit größten Produzenten von Elektronik- und Computerteilen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Deshalb wären auch der Zusammenhang mit Fluchtursachen (z. B. Klimawandel, der die traditionelle Landwirtschaft in Angola allmählich unmöglich macht) herzustellen.  

Da die Beschäftigung mit dem Themenbereich Umwelt, Ressourcenverbrauch, Klimawandel im Hinblick auf das Überleben der Menschheit von herausragender Bedeutung ist (und dies auch eng mit dem Themenbereich Gesundheitsförderung zusammenhängt), wäre unbedingt zu überprüfen, inwieweit dieser wichtige Themenkomplex auch in den einzelnen Fachlehrplänen Niederschlag findet, wobei sich natürlich manche Fächer mehr dafür anbieten als andere. Positiv ist, dass z. B im Fach Englisch die Fachlehrpläne der einzelnen Jahrgangsstufen mit Ausnahme der 7.  gelegentlich Themen aus dem Bereich Umwelt und Konsum aufgreifen, was im derzeit gültigen Englischlehrplan kaum der Fall ist. Dies sollte aber noch stärker  geschehen und auch das Thema des ethischen bzw. fairen Handels sollte unbedingt verpflichtend mit aufgenommen werden. Dieses wird in der 10. Jahrgangsstufe nur als ein mögliches Thema erwähnt und könnte auch ebenso weggelassen werden. 

 

3. Zeitlicher Rahmen für einzelne Themengebiete am Beispiel des Englischlehrplans

Die Stundenangaben für die Beschäftigung mit den Themengebieten im Fach Englisch in den einzelnen Jahrgangsstufen gehen von einem Idealfall aus, der in der Schulrealität so nicht existiert. Beispiel 9. Klasse: Hier werden insgesamt für die verschiedenen Themengebiete 84 Stunden ange-geben. Bei drei Unterrichtsstunden pro Woche und de facto 36 Wochen, da die erste und letzte Wo-che wegen Wandertag, Bücherabgaben, Gottesdienste, Klassleitung etc. wegfallen, wären dies 108 Stunden pro Schuljahr. Aber auch das steht tatsächlich nicht zur Verfügung: Drei Schulaufgaben mit je mindestens zwei Stunden Wiederholungs- bzw. Vorbereitungszeit, je eine Stunde für die Schulauf-gabe selbst und die Herausgabe, Besprechung und das Einsammeln erfordern pro Schulaufgabe mindestens vier Stunden, insgesamt also mindestens 12 Stunden, vier Stegreifaufgaben mit Heraus-gabe, Besprechung, Einsammeln insgesamt vier Stunden. Hinzu kommen ca. 10 Stunden Unterrichts-ausfall durch mehrtägige Schulfahrt, weitere außerunterrichtliche Aktivitäten wie Berufsinforma-tionstage, Abwesenheit der Englischlehrkraft wegen Teilnahme an der Abschlussprüfung (je 1 Tag für Sprechfertigkeit und schriftliche Abschlussprüfung), Projekte, Überlängen der Deutsch-Schulauf-gaben und vieles mehr. Unberücksichtigt bleiben hier des Weiteren Krankheitstage der Lehrkraft. Abzüglich dieser Stunden verbleiben 82 Stunden. In dieser Zeit muss ausgefragt werden, müssen gegebenenfalls auch Klassleitungstätigkeiten erledigt oder auftretende Konflikte in der Klasse besprochen werden.

Zudem müssen Grammatikthemen immer wieder wiederholt werden. Weder Grammatik-einführungen noch die Festigung und Übung lassen sich immer in die vorgegebenen Themengebiete einbauen. Zudem stehen ja z. B. auch bei landeskundlich eingebetteten Übungen die Themengebiete selbst nicht im Vordergrund. Wie soll hier noch Zeit für den notwendigen pädagogischen Freiraum bleiben und um so wichtige Themen wie z. B. Umwelterziehung unterzubringen?

Es ist somit illusorisch anzunehmen, es stünden so viele Stunden für die einzelnen Themengebiete zur Verfügung.  Die angegebenen Stundenzahlen müssten auch in allen anderen Fächern überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden.

Wegen des Zeitdrucks wären auch andere Bereiche gegebenenfalls zu überprüfen, z. B. ob im Lehr-plan der 9. Jahrgangsstufe eine nur passive Beherrschung der indirekten Rede vertretbar wäre.

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Anhörung des Ministeriums sowie Stellungnahme der GEW Bayern auch als PDF zum Download - s. unten!