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Artikel von Prof. Dr. Hans Wocken zum Schulstruktursicherungsgesetz

Replik auf den Beitrag von Bruno Schor: Inklusive Schule (Spuren 2012, Heft 2)

In dem bemerkenswert kritischen und zugleich inklusionsorientierten Beitrag von Bruno Schor über das neue bayerische Schulgesetz sind einige Unstimmigkeiten enthalten:

1. Schor räumt zunächst ein, dass die Lernzieldifferenz in der bayerischen Bildungspolitik bislang keine Akzeptanz gefunden hat und nahezu verpönt war. Immerhin ein spätes Eingeständnis. Sodann wird dem neuen Gesetz eine „Bejahung der Lernzieldifferenz“ unterstellt. Ein verwunderliches Testat. Tanja Götz, Ministerialrätin im bayerischen Kultusministerium und dort insbesondere für Rechtsfragen zuständig, schreibt in einem Artikel, der auch Schor bekannt ist: „Eine lernzieldifferente Unterrichtung an weiterführenden Schulen mit besonderen Regelungen zu Zugang und Verbleib (…) ist nicht möglich“ (Götz 2011, 338). Die Auslegung des neuen BayEUG durch Schor ist offensichtlich nicht mit der Auffassung des Kultusministeriums kompatibel. In Bayern steht Inklusion insbesondere in der Sekundarstufe weiterhin unter dem Vorbehalt der Lernzielgleichheit.

2. Die unzutreffende Exegese des BayEUG durch Schor hat ihren tieferen Grund darin, dass eine zentrale Passage des neuen Gesetzes von Schor keinerlei Beachtung findet: „Schulartspezifische Regelungen für die Aufnahme, das Vorrücken, den Schulwechsel und die Durchführung von Prüfungen an weiterführenden Schulen bleiben unberührt.“ (BayEU 30a, 5). Das heißt auf gut Deutsch: Der Zugang zu den höheren Schulen wird durch die Formel „schulartspezifische Voraussetzungen“ für lern- und geistig behinderte Schüler endgültig verschlossen. Das Diktum „schulartspezifische Voraussetzungen“ riegelt die Schularten des gegliederten Schulwesens hermetisch voneinander ab und schlägt die Tür zur Inklusion, d.h. zur Heterogenität in allen Schularten bzw. im gesamten Schulsystem endgültig zu. Die unheimliche Formel „schulartspezifische Voraussetzungen“ bekräftigt auf nachdrücklichste Weise das eherne Gesetz der Separation: Lernzielgleichheit! Heterogenität darf es allein in der Grund- und Hauptschule geben. Weil Inklusion im Prinzip keine Schularten und –formen kennt, ist auch das Diktum „schulartspezifischer Voraussetzungen“ ein Dolchstoß ins Herz der Inklusionsidee. Die „höheren Schulen“ werden mit der Formel „schulartspezifische Voraussetzungen“ von (lernzieldifferenter) Inklusion entpflichtet. Inklusion wird zu einer exklusiven Angelegenheit der Grund- und Hauptschulen. Genau diese Formel hat mich veranlasst, von einem „Schulstruktursicherungsgesetz“ zu sprechen. Lernzieldifferenz – da beißt die Maus nun mal keinen Faden ab – ist mit einem gegliederten Schulsystem nicht kompatibel. Das Gebot „schulartspezifischer Voraussetzungen“ ist wahrlich kein nebensächliches Detail des BayEUG, das man bei der Interpretation generös übersehen darf. Schor breitet über dieses, die Struktur eines gegliederten Schulwesens sicherndes Diktum den Mantel des Schweigens aus.

3. Schor bedient sich in seinem Beitrag mehrfach einer wohlfeilen Anti-Wocken-Attitüde; ferner wird durch eine entrüstete Abgrenzung von der „Gemeinschaftsschule“ der SPD auch eine deutliche parteipolitische Duftmarke gesetzt. Angesichts dieser Beifall erheischenden Distanzierungen von anderen Positionen überrascht dann das abschließende Fazit des Autors doch. Schor stellt fest, dass Bayern eine bildungspolitische Innovation initiiere, „ohne die Architektur des bestehenden Bildungsgefüges grundlegend zu verändern. Zuallererst werden inklusive Elemente in das bestehende Schulsystem implementiert.“ Da staunt man nicht schlecht! Worin denn der inhaltliche Unterschied zwischen diesen Feststellungen und meiner These eines „Schulstruktursicherungsgesetzes“ besteht, ist nicht ersichtlich. Das gegliederte Schulsystem Bayerns „integriert“ Inklusion!

4. Schließlich schwenkt Schor in seinem Fazit endgültig auf jene argumentative Linie ein, von der sich abzugrenzen er doch so energisch bemüht war; ja die Schulstruktursicherungsthese wird sogar noch getoppt durch tiefsitzende Zweifel an dem Erfolg des eingeschlagenen Weges. Bei der bayerischen Gesetzesnovellierung bewahren nach Schor „alle vorhandenen Schularten ihr originäres Profil“ (21; eben!) und „die gesetzlich offerierte Angebotspalette [beinhaltet] in Wahrheit kein inklusives Schulmodell“ (21; ein wenig schmeichelhafter Offenbarungseid!) – die Schulstruktursicherungsthese lässt grüßen. Und ganz im Sinne der Schulstruktursicherungsthese verschont Schor die „höheren“ Schulen und adressiert die Inklusionsaufgabe exklusiv an Grund-, Haupt- und Berufsschule (21). Paradoxerweise sind aber nach Schor gerade diese auserkorenen Lernorte nur sehr bedingt für inklusive Bildung geeignet: „In ihrer gegenwärtigen Ausprägung ist die Grundschule ohne Zweifel weit davon entfernt, eine Bildungsstätte für alle Kinder sein zu können“ (Schor 2012, 21). Und auch bei der Hauptschule hegt Schor Zweifel, „ob sich dieser Schultyp … als angemessene Bildungsstätte für inklusives Lernen erweist“. Diese skeptischen bis negativen Einschätzungen stammen von Schor höchst selbst. Die Inklusion findet also nach Schor in der vorfindbaren Schulwirklichkeit Bayerns keine Heimat, wo sie sich konzeptgemäß einrichten und wohlfühlen könnte. Angesichts einer derart defätistischen Analyse zur Lage der Schulen im Lande, die nun doch über meine Schulstruktursicherungsthese hinausgeht, muss man sich besorgt fragen, wem größeres Mitgefühl entgegenzubringen ist: Den „betroffenen“ Schulen, die inklusive Bildung nun sollen, aber – laut Schor - nicht können, oder der Inklusion, die in der Wirklichkeit dieser Schulen unter die Räder zu geraten droht.

Prof. Dr. Hans Wocken