Onlineinhalt zur DDS September 2024
Narben, Narben überall
Die folgende Rezension erschien stark gekürzt in der DDS September 2024. Hier ist die ausführliche Vollversion zu lesen.
Mit „Die Schafe im Wolfspelz oder Der Völkermord von Herrnweiler“ stellt sich Felix Winter dem Holocaust in der deutschen Provinz, der Geschichte welche sich hinter dem ruhigen Image der ländlichen Idylle überall im Land versteckt. Dabei gelingt ihm nicht weniger als ein historisches, politisches und literarisches Meisterstück, welches einen enorm wichtigen Beitrag in unserer aktuellen Lage darstellt.
Wie wir heutzutage über die Diktatur der Nazis reden ist eine wichtige Frage – besonders, weil sie gerade in populären und populärwissenschaftlichen Kontexten nicht ernsthaft gestellt zu werden scheint. Unlängst sind die Debatten darum, ob der Holocaust überhaupt filmisch oder literarisch darstellbar ist (Welche bis weit in die 90er Jahre auf allen Ebenen der Kunst kontrovers geführt wurde [1]) abgeflacht. Nazis sind seit geraumer Zeit häufige Bösewichte in historisch angesiedelten Actionfilmen, der zweite Weltkrieg in vielen Fällen schlichte Kulisse für blutige, „heroische“ Geschichten welche, gelinde gesagt, wahrscheinlich in ihrer Thematik auch den rechten Kriegsromantikern der Vorkriegszeit gefallen hätten. Seltener versucht sich ein*e Autor*in oder Regisseur*in daran, die industrielle Vernichtung deutscher und europäischer Minderheiten und Andersdenkender durch das deutsche Regime darzustellen. Und auch wenn diese Versuche einen wichtigen Baustein dahingehend darstellen, das Geschehene nicht zu vergessen, mehr noch, daran zu erinnern, dass „Dieser Schoß noch fruchtbar ist“ und die Gefahr des Faschismus niemals vorbei, maximal im Moment besiegt sein kann, stellen sie doch immer das Problem dar, die Shoah als Ereignis auszuschmücken. Als Ding, das an bestimmten Orten von bestimmten Menschen begangen und erlitten wurde. Wo anders. Von jemand anderem. Selten findet sich ein Werk, welches einen anderen Weg geht. In dem das Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass die Taten und Täter*innen eben nicht distanzierte Figuren waren und teilweise noch sind, welche im vagen Raum des Historischen verortet werden können. Felix Winter ist ein eben solches Werk gelungen, und „gelungen“ benutze ich in diesem Kontext nicht leichtfertig. In „Die Schafe im Wolfspelz“ kulminieren Jahrzehnte der akribischen Arbeit eines Historikers, welche das Brennglas der Forschung und des Diskurses auf die Menschen richtet, welche erlebt haben, wie Krieg und Verfolgung jeden Winkel des Lebens verdreht und zerstört haben. In einer Reihe von Zeitzeug*inneninterviews schildert dieses Buch, welches 2024 im Reimo-Verlag erschien, nicht nur die Ereignisse dieser Zeit, sondern wie es sich anfühlte diese zu erleben. Selten ist mir persönlich ein Werk begegnet, welches es auf derart intensive Art schafft, die damaligen Verhältnisse erfahrbar zu machen.
Der große und kleine Kosmos der NS-Diktatur
Insgesamt stellt das Buch sieben Geschichten von Menschen dar, welche nicht nur die „Hitlerzeit“, wie sie die Zeitzeugen häufig im Buch nennen, sondern auch den Weg dorthin und die Ereignisse danach wiedergeben. Den Fokus legt Winter hierbei auf den semi-fiktiven Ort Herrenweiler. Semi-fiktiv, weil Herrenweiler zwar nicht existiert, zumindest nicht unter diesem Namen. Aber real, weil all die Personen, welche in seiner Recherche zu Wort kommen, tatsächlich aus demselben bayerischen Dorf stammen, die Ereignisse in diesem geteilten ländlichen Universum stattgefunden haben, sie an diesem historischen Zeitpunkt dasselbe Universum geteilt haben (aus dem der Autor überdies auch selbst auch selbst stammt). Die besondere Stärker seiner Arbeit liegt, meiner Meinung nach, besonders in diesem Umstand. Die meisten, wenn nicht alle interviewten Menschen waren Bekannte. Ihre Geschichten sind teils enorm stark miteinander verwoben, und so gelingt dem Buch eine absolute Herkulesaufgabe: Hier sind es nicht die Erzählungen von Verfolgten oder von Täter*innen, es erfolgt keine Trennung zwischen der Kriminalisierung von jüdischem und politischem Leben und dem stummen Hinnehmen der Ereignisse durch den Mainstream. In dem kleinen Ort Herrnweiler entsteht ein Kosmos, welcher all diese Erfahrung einzufangen vermag, die Gleichzeitigkeit all dieser Ungerechtigkeiten und den Umgang damit erfahrbar macht. Um den unfassbaren Wissensgewinn darzustellen, möchte ich etwas in den Text gehen.
Die Interviews
Winter eröffnet sein Buch mit einer Erzählung von „Gretchen“. Sie wurde vor dem ersten Weltkrieg geboren, schildert andächtig ihre Erfahrungen im ersten Kriegswinter 1914, in der ihre Familie das letzte Mal ganz beisammen war. Mit Hurrapatriotismus aufgeladen wurde das Neujahrsfest dort von den Männern gefeiert, welche zum Teil wenige Jahre später nicht mehr am Leben waren. Die Bürgerkriege in der jungen Weimarer Republik haben sie auf dem Land nie richtig erreicht, ihre Ausbildung zur Lehrkraft nimmt mehr Raum ein als die politischen Vorgänge nach dem Ende der Monarchie. Den Aufstieg der NS-Partei nimmt sie als Tochter eines Bürgermeisters der Zentrums-Partei zwar mit Besorgnis wahr, aber mehr als eine moralische Opposition dazu schien es damals von ihr und ihrem Vater nicht zu geben. Was hätte sie auch tun sollen, waren die Vorgänge der politischen Welt doch sehr weit weg. Sie erzählt ebenfalls von einer kleinen, enorm kunstvollen Schatulle, welche ihr Vater von einem der wenigen ansässigen Kommunisten – seines Zeichens Schreiner – erworben hatte. „Nach dem Krieg waren halt viele Radikal“, sagt sie an einem Punkt, beinahe schon entschuldigend für dessen politische Haltung, oder ihren Umgang mit ihren Nachbarn. Der Mann, Andres, ist ebenfalls unter jenen, welche ihre Geschichte erzählen. Er erlebte das „Große Völkerschlachten“ aus der Sicht eines Soldaten buchstäblich am eigenen Leib. Viele Verwundungen trieben ihm den Gedanken an bürgerliche Sitte aus, er schloss sich zum Kriegsende den kommunistischen Soldatenräten an, trat in die KPD ein und ging mit Optimismus in die neue Zeit. Doch was für „Gretchen“ ein idyllisches Dorfleben war, stellt für Andres eine Geschichte voll Entbehrungen, Armut und Ausgrenzung dar. In der großen Depression zieht er als Tagelöhner durch die Gegend, immer mit einem politischen Willen dazu, den „doppelten Kapitalismus“ aus Inflation und Kriminalisierung zu durchbrechen. Dies endet für ihn in Einschüchterung und Verfolgung durch das Regime, lediglich seine Ehefrau fand beim Bürgermeister eine kleine Anstellung als Hauskraft, ihm war als “Staatfeind” seine gelernte Tätigkeit untersagt, später wurde er sogar zwangsverpflichtet und musste an die Ostfront. Ihn und Gretchen eint das Erleben des zweiten Weltkriegs allerdings durch eine intensive Beschreibung von Angst. Andres sieht Kameraden jeden Alters sterben, Gretchens Familie wird durch Fliegerbomben und Verfolgung immer weiter dezimiert, bis sie zum Kriegsende nur noch selbst übrigbleibt. Eine ihrer Verwandten, ihre Schwägerin Judith, ist jüdischer Abstammung. Ihr Vater ist noch Veteran im ersten Weltkrieg gewesen, sie selbst wurde aufgrund ihrer Abstammung zur Staatsfeindin erklärt. Nach dem Tod von Gretchens Bruder, sie beschreibt ihn als „Arier“, bleibt ihr kein Schutz mehr vor dem mörderischen System. Sie wird in das Konzentrationslager und Ghetto Theresienstadt deportiert, „auf Viehwagons“. Egal welchen Schrecken ihre Schwägerin oder ihr Nachbar Andres erlebt haben, sie selbst beschreibt die unmenschlichste Behandlung, die Menschen anderen Menschen in unserer Geschichte jemals angetan haben. Eingepfercht auf engen Räumen werden sie, ihr Sohn und ihr neuer Ehemann geschlagen, mit ungenießbarem Essen und dreckigem Wasser vergiftet, von Seuchen heimgesucht und zur Zwangsarbeit bis an den Tod getrieben. Nur knapp entgehen sie und ihre Familie dem Abtransport in die Gaskammern nach Auschwitz; sie bezeichnet sich und die anderen Inhaftierten als „lebendig Verwesende“. Nach dem Krieg kehrt sie in ihre ländliche Heimat zurück, doch dort ist sie mehr oder minder verpflichtet, darüber zu schweigen was ihr widerfahren ist. Kein Interesse hat es damals in dieser schweigenden Gesellschaft für die Wahrheit gegeben. Ich möchte nicht zu viel vom tatsächlichen Text vorwegnehmen, denn ich spreche mich so deutlich es geht dafür aus, dass Sie dieses Buch selbst lesen. Doch ich möchte eine Sache nicht auslassen, nämlich die Art, wie Gretchen aus ihrer Perspektive der Täter-Gesellschaft auffasst, wie es so weit kommen konnte. Nach dem Tod ihrer Mutter und aus Angst, von den abrückenden SS-Truppen doch noch als Volksfeindin hingerichtet zu werden kurz vor Kriegsende, beschließt sie ihre restliche Habe einzupacken und zu flüchten. Dabei fällt ihr die Schatulle in die Hände, welche ihr Vater von Andres machen ließ und dazu verwendete, seine persönlichsten Schriftstücke aufzubewahren. Unter diesen findet sie den Obduktionsbericht ihres im ersten Weltkrieg bei einem Flugzeugabsturz getöteten Bruders. Mit absolutem Grauen beschreibt sie, wie der untersuchende Arzt genüsslich über die brutalen Verstümmelungen des Gestorbenen schreibt, dass er fast enttäuscht zu sein scheint, dass er nicht noch mehr Verletzungen findet. Dies bringt sie zu einer von vielen faszinierenden Beobachtungen in diesem Kunstgriff eines Zeitzeugen-Buches: Die Brutalität der Nazis kam nicht mit ihnen. Sie ist lediglich ein Ausdruck davon, was den Deutschen schon lange vorher beigebracht wurde – sieht man sich unsere Gesellschaft heute an, kann man sagen, erschreckender Weise immer noch beigebracht wird.
Kein Nachwort
„Die Schafe im Wolfspelz“ hat mich beim Lesen auf diese Art berührt, weil es sich, trotz des Alters der Erzählenden, nicht unbekannt angefühlt hat. Wenn ich heute gelegentlich noch mit meinem Vater vor dem Fernseher sitze, dann ist die Chance groß, dass auf einem Sender, welcher mit einem angeblichen Bildungsauftrag antritt, eine Dokumentation über dieses Thema läuft. Ich bin selbst mit dieser Art von Berichterstattung aufgewachsen, mit Bildern aus Riefenstahl-Filmen, welche im deutschen Free-TV die Nazis so zeigen, wie sie selbst gesehen werden wollten. Viel mehr, mein Vater hat noch erlebt, wie auf dem bayerischen Land die Menschen durch diese Ereignisse geformt wurden. Ich habe nie wirklich verstanden, warum sie eine solche Faszination auf ihn ausgeübt haben, warum teilweise Stunden am Stück über die Ereignisse dieses Krieges ins Land zogen. Ein Interesse an Geschichte, am Faschismus als Phänomen, an den Schrecken des Krieges, ja, all dies ist enorm wichtig und sollte Teil eines demokratischen Selbstverständnisses sein. Dennoch war mir bis zu diesem Buch nicht klar, woher dieses intensive Interesse an dem Schlimmsten kommt, zu dem Menschen fähig sind. Doch was Felix Winter beschreibt, ist die Welt, in der mein Vater und zum Teil auch ich aufgewachsen sind. Dörfer, Idylle, Weltfernheit. Und ein enorm schwer zu fassendes Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Dass auch hier, viele Generationen später, die Narben nie wirklich geschlossen wurden. Dass die Verbrechen unserer Ahnen immer noch Furchen durch das heutige Deutschland ziehten und man eher damit leben kann, wenn man es ignoriert. Und genau deshalb ist “Der Völkermord von Herrnweiler“ meiner Meinung nach einer der relevantesten politischen Texte, welche man sich dieses Jahr zu Gemüte führen kann. Was ihm hier gelingt ist nämlich nicht eine Beschreibung von Damals, es ist eine Beschreibung des Jetzt, und der eindringlichste Aufruf, hinzusehen, Menschen zu erkennen wie und wo sie sind und zusammen zu stehen, wo immer ihre Menschlichkeit geleugnet wird. Herrnweiler ist überall.
[1] Mirjam Schmid: Darstellbarkeit der Shoah in Roman und Film. Kulturgeschichtliche Reihe, 2012