In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts begannen in Skandinavien WissenschaftlerInnen (insb. einemann und Olweus) Mobbing in Schulklassen systematisch zu erforschen . ausgelöst durch Selbstmordfälle, bei denen in gefundenen Tagebucheinträgen Mobbingattacken detailliert beschrieben waren und die Opfer des Mobbings keinen Ausweg mehr sahen. Olweus befragte in den folgenden Jahren in einer Kompletterhebung an allen norwegischen Schulen viele Kinder und Jugendliche. Nach und nach begannen auch in anderen Ländern Forschungen zu Mobbing (Smith et al., 1999), in Deutschland erst vor ca. zehn Jahren, unter anderem an der LMU München. Hier bildeten Mechthild Schäfer, Marija Kulis und der Autor die Arbeitsgruppe S.A.M.S. (Soziale Aggression und Mobbing in Schulklassen) und führten verschiedene Untersuchungen mit insgesamt mehr als 5.000 befragten Schülerinnen und Schülern durch.
Mobbing – eine Definition*
Zunächst ist Mobbing ein aggressives Verhalten von MitschülerInnen, das eine Schülerin bzw. einen Schüler absichtlich körperlich und/oder psychisch schädigt. Aber jemandem das Federmäppchen vom Tisch werfen, jemanden ausgrenzen oder beschimpfen, ist das denn gleich Mobbing? Wenn es immer wieder passiert und über einen längeren Zeitraum gezielt die gleiche Person trifft, die sich nicht so zur Wehr setzt, dass sich die Situation für sie bessert, wenn zudem der Missbrauch einer sozialen Machtposition vorliegt, dann sind die üblicherweise in der wissenschaftlichen Forschung verwendeten Kriterien für Mobbing erfüllt (Olweus, 1991). Bullying kann auf verschiedenen qualitativen Ebenen stattfinden. Zunächst wird verbales (z.B. über jemanden Witze machen, bloßstellen, hänseln) von körperlichem (schlagen, schubsen, festhalten u.Ä.) und relationalem, auf die Beziehung zielendem Bullying (ausgrenzen, Gerüchte verbreiten, Sachen verstecken u. Ä.) unterschieden. Eine andere Unterscheidung bezieht sich auf die Strategie, mit der das Opfer erreicht wird. Dies kann direkt oder indirekt geschehen. So kann Bullying z.B. mit Hilfe der Sprache ein Opfer direkt treffen oder indirekt die sozialen Beziehungen der Opfer manipulieren.
Hingegen werden Aggressionen gegen Sachen (Vandalismus) oder Auseinandersetzungen in der Art, dass zwei, die psychisch und/oder körperlich gleich stark sind, miteinander Krach haben oder nicht systematisch und gezielt auftretende Aggressionen (Konflikte) ebenso wenig als Mobbing bezeichnet wie nur einmal auftretende Ereignisse oder wilde Spiele und Rangeleien, die die Beteiligten als genussvoll erleben. Bullying/Mobbing tritt in hierarchisch gegliederten Systemen mit klaren Machtstrukturen, wie in Gefängnissen, in der Armee oder eben in Schulen, auf, deren Mitglieder die Gruppe nicht ohne Weiteres verlassen können.
30 Jahre Forschung zu Mobbing in Schulen
Befragungen von Schülerinnen und Schülern ergaben, dass es nahezu in jeder Klasse Opfer von Mobbing und Bullys (Täter) gibt, unabhängig von der Lage (Stadt/Land), der Art (Haupt-, Realschule oder Gymnasium) und Größe der Schule (Schäfer, Korn, Brodbeck, Wolke & Schulz, 2005). Etwa Mobbing in Schulklassen – systematische Schikane.
Die bis vor einigen Jahren geltende Unterscheidung zwischen Bullying für den schulischen Bereich und Mobbing für die Arbeitswelt wird zunehmend bedeutungslos. Im vorliegenden Text werden die Begriffe Bullying und Mobbing synonym verwendet. Foto: imago/emil umdorf DDS Dezember 2006 4 15% der Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen können als Opfer bezeichnet werden, etwa 4 % müssen sogar ein- oder mehrmals pro Woche Attacken über sich ergehen lassen (Smith et al., 1999). In Grundschulen werden meist mehr Opfer gezählt als in den weiterführenden Schulen, allerdings ist dort die Wahrscheinlichkeit höher, nicht über sehr lange Zeit Opfer von Mobbing zu bleiben. In weiterführenden Schulen sind in Deutschland bei vorsichtiger Schätzung rund eine halben Million (!) Schülerinnen und Schülern von Mobbing betroffen. Manche von ihnen müssen solche Viktimisierung über viele Jahre oder sogar ihr gesamtes Schulleben lang erleiden. Die Folgen sind erheblich: Psychische oder psychosomatische Symptome, Unkonzentriertheit . auch aus Angst vor der nächsten Attacke ., Schulabwesenheit, stärkere Isolation, nachlassende Schulleistungen und langfristig eine Depression sind wahrscheinlich.
Wie kann Mobbing unentdeckt bleiben?
Mobbing ereignet sich anfangs besonders dort, wo wenig oder gar keine Kontrolle herrscht. Im Fall der Schule sind das besonders Pausenhöfe oder Klassenzimmer, wenn keine Lehrkräfte anwesend sind. Es findet also zunächst nicht direkt vor unserer Nase statt. Je länger allerdings Mobbing andauert, desto dreister und offensichtlicher werden auch die Methoden. Das mag bis zum Filmen der Misshandlungen und der Veröffentlichung im Internet reichen. Über 80 % der Kinder und Jugendlichen, die mindestens über ein halbes Jahr einmal pro Woche oder öfter gemobbt werden, erzählen weder in der Schule noch zu Hause jemandem von ihrem Leid. Sie fühlen sich selbst schuldig und haben kein Vertrauen in die Hilfe Erwachsener. Ein Befund, der uns zu denken geben sollte. Ein weiterer Grund, dass bei Mobbing nicht eingeschritten wird, ist leider immer noch auch darin zu suchen, dass Mobbing von Lehrenden und Schulleitenden schlicht geleugnet, zumindest aber in der eigenen Klasse/Schule nicht wahrgenommen wird. Für die betroffenen Opfer ist diese Einstellung fatal, denn Mobbing hört nicht von selber auf, es greift im Gegenteil um sich und involviert immer mehr Mitschülerinnen und Mitschüler. Um Mobbing zu beenden braucht es eine Intervention von außen z.B. durch die Lehrenden. Wenn aber die Lehrenden selbst nicht wissen, was sie tun sollen, können sie auch kein Modell für diejenigen Schülerinnen und Schüler in der Klasse sein, die Mobbing falsch finden und eigentlich etwas unternehmen würden. Dieser Anteil in den Klassen stellt . zumindest am Anfang des Mobbings . fast die Hälfte der SchülerInnen dar, nur ein Fünftel bekundet Verständnis für die TäterInnen.
Gibt es typische Opfer und typische Täter?
Unsere erhobenen Daten zeigen, dass die Rolle des Opfers nicht von den Eigenschaften des Opfers abhängt, sondern vielmehr jeder Schülerin und jedem Schüler zugeschoben werden kann. Opfern wird von ihren KlassenkameradInnen (zusätzlich auch häufig von den Lehrenden!) immer eine Abweichung vom »Normalen« angedichtet (»die ist immer so komisch angezogen« oder »der stinkt« o.Ä.). Nur so ist das Mobbing auch vor sich selbst zu vertreten. Tatsächlich ist ja aber gerade das Normale nur ein gedachter Durchschnittswert, das heißt, jede und jeder weicht von diesem Normalen in einigen Punkten ab.
Ein aggressives Kind unterscheidet sich von einem Bully dadurch, dass es jedem gegenüber impulsiv und unkontrolliert aggressiv reagiert. Bullies hingegen sind sich der Schwächen ihrer Opfer bewusst und setzen dieses Wissen strategisch und systematisch ein, um ihren Status zu halten oder zu verbessern und das Opfer fertig zu machen. Ihnen wird oft ein starkes Selbstvertrauen und ein gutes Verständnis der sozialen Situation in der Klasse bescheinigt.
Was ist mit dem Rest der Klasse?
Während Olweus noch im Jahr 1991 schreibt, dass 80% der SchülerInnen nicht in Bullying involviert wären und den Fokus seiner Forschung auf die Dyade TäterIn/Opfer legt, beschlossen finnische ForscherInnen die gesamte Klasse zu betrachten (Salmivalli, Lagerspetz, Björkqvist, Österman & Kaukiainen, 1996). Sie konnten neben Opfern und TäterInnen vier typische Rollen isolieren, die MitschülerInnen bei Mobbing einnehmen: Da sind zunächst die AssistentInnen und UnterstützerInnen des Täters/der Täterin zu nennen, die von sich aus nicht mit dem Mobbing anfangen würden, andererseits aber sofort mitmachen, wenn der Täter/die Täterin damit anfängt. Die verbleibenden beiden Rollen sind die des Verteidigers/der Verteidigerin des Opfers und die Rolle der Außenstehenden, die zwar wissen, was passiert, aber selber keine Stellung beziehen und sich heraushalten. Mit diesem breiteren Blick auf die Klasse zeigte sich, dass in einer Mobbingsituation fast 90 % der SchülerInnen üblicherweise eine Rolle einnehmen.
Unsere bei 1.100 SchülerInnen erhobenen Daten zeigen, dass TäterInnen, ihre AssistentInnen und UnterstützerInnen durchschnittlich nur ein Drittel der Klasse ausmachen (Kulis, 2005). Diese Resultate geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass bei Maßnahmen gegen Mobbing immer die ganze Klasse beteiligt sein sollte, weil Aktionen gegen Einzelne immer zu kurz greifen. Andererseits zeigen sie, dass (anfangs) nicht einmal die Hälfte der Klasse aktiv mobbt oder die TäterInnen unterstützt. Der Teil der Klasse, der bereit ist, gegen Mobbing einzuschreiten, muss gestärkt werden. Der Klasse kann zudem gezeigt werden, dass sie sich durch die TäterInnen manipulieren und für ihre Zwecke missbrauchen lässt.
Das System der Schikane
Wie verläuft typischerweise ein Mobbingfall, wenn nicht geeignete Maßnahmen dagegen unternommen werden? Unsere Arbeitsgruppe hat dazu auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes ein dreistufiges Phasenmodell entworfen (Schäfer & Korn, 2004). In der Anfangsphase sucht eine Täterin oder ein Täter mit kleinen Gemeinheiten gegen einzelne Mitschülerinnen und Mitschüler geeignete Opfer. In der zweiten Phase beginnen die systematischen Attacken gegen das Opfer. In diesem Stadium muss das Verhalten unterbunden werden, wenn der Prozess unterbrochen werden soll. Hierbei spielt das Verhalten der MitschülerInnen eine entscheidende Rolle. Lehrende können unterstützend auf die Klasse einwirken. TäterInnen deuten nämlich Zuschauen und Nichteingreifen der MitschülerInnen als Zustimmung. In der dritten Phase hat es die Täterin/der Täter geschafft, die Klasse davon zu überzeugen, dass die Aggressionen gegen das Opfer gerechtfertigt sind. Das Opfer muss jetzt offene Ablehnung und Angriffe von einem Großteil der Klasse erleiden.
Was also tun im Umgang mit Mobbing?
1. Mobbing in Schulklassen zur Kenntnis nehmen!
Mobbing ist als eine soziale Form aggressiven Verhaltens kein neues Phänomen und weit verbreitet. Forschende, die Interventionen evaluiert haben, beschreiben es als wichtigstes Ziel an der Schule, ein »Erzählklima« zu schaffen. Dann ist es auch möglich, über Mobbing zu sprechen, die Systematik aufzuzeigen und mit den Schulklassen ein Programm zu erarbeiten, wie Mobbing in der Klasse gestoppt werden soll.
2. Die Bearbeitung liegt im Verantwortungsbereich der Schule.
Jeder Fall von Mobbing muss von den Lehrenden in seiner Einzigartigkeit betrachtet und gelöst werden, dies kann ein langwieriger Prozess sein, der dauerhafte Begleitung und regelmäßige Überprüfung notwendig macht. Die manchmal gängige Praxis, als einzige Maßnahme das Opfer aus der Klasse zu nehmen, kann nur in extremen Ausnahmefällen empfohlen werden. Die damit vermittelte Lektion wäre für alle Beteiligten die falsche. Das Opfer lernt: Weggehen ist die einzige Möglichkeit, Aggression . und sei sie noch so unfair . zu begegnen. Der Bully lernt: Mobbing ist ein Weg, jemanden loszuwerden und sucht sich schon sein nächstes Opfer. Die Gruppe lernt: Mobbing wird von der Schule akzeptiert. Außerdem wird die Klasse um die Möglichkeit gebracht, soziale Fertigkeiten im Umgang mit Mobbing zu lernen.
3. Einem Opfer glauben!
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand damit brüstet, ein Mobbingopfer zu sein, ist sehr gering. In den meisten Fällen erzählen die Opfer niemandem etwas von ihren Qualen. Es handelt sich also um einen besonderen Vertrauensbeweis, wenn sie es dennoch tun. Wichtig ist eine schnelle Einsch ätzung, wie weit das Mobbing schon fortgeschritten ist, denn danach müssen sich die Maßnahmen bemessen.
4. Das Opfer zu schützen, ist das oberste Ziel.
Das Opfer ist nie selber Schuld am Mobbing! Wie genau der Schutz zu erreichen ist, hängt vom jeweiligen Fall ab. In einem Fall mag es primär sinnvoll sein, wenn die Lehrenden den Banknachbarn tauschen, in einem andern Fall, gezielt Gruppenarbeit einzurichten, in der das Opfer mit »neutralen « oder ihm freundlich gesinnten Kindern in eine Gruppe gesetzt wird. Im Einzelfall kann es sinnvoll sein, das Opfer eine Zeit lang vor dem Rest der Klasse nach Hause gehen zu lassen o.Ä.. Kinder mit sozialen Schwierigkeiten sollten nicht alleine sitzen. Suchen Sie eher nach einem »Schutzengel« (Patenschaft), den Sie neben das Opfer setzen können.
5. Ein Mobbingfall als Chance zu einem besseren Miteinander
Die ganze Klasse kann lernen, dass es konstruktive Wege aus Sackgassen gibt und Mobbing kein akzeptables Mittel zum Durchsetzen von persönlichen Zielen ist. Wie sonderbar auch immer jemand aussehen oder sich verhalten mag, es ist in keinem Fall ein Grund für Mobbing! Schülerinnen und Schüler sollten begreifen: Man muss nicht jeden mögen, das heißt aber nicht, dass man jemanden, den man nicht mag, mobben darf! Auch den Bullies, denen es um Anerkennung und hohen sozialen Status) in der Klasse geht, kann gezeigt werden, dass sie mit prosozialem Verhalten »echte« Anerkennung erreichen können. Die Schule könnte so einen essenziellen Beitrag zu ihrem Erziehungsauftrag leisten.
Literaturverzeichnis:
Kulis, Marija: Bullying als Gr uppenphänomen: Der Beitrag der Mitschüler für die Stabilisierung von Bullying. München: Dr. Hut, 2005.
Olweus, Dan: The Olweus Bully/Victim Questionnaire. Bergen: Mimeograph, 1989. Olweus, Dan: Bully/victim problems among schoolchildren: Basic f acts and effects of a school based intervention program. In D. J. Pepler & K. H. Rubin (Eds.), The de velopment and treatment of childhood ag gression (pp. 411-448). Hillsdale, NJ, USA: Lawrence Erlbaum, 1991.
Salmivalli, Christina; Lagerspetz, Kristi; Björkqvist, Kaj; Österman, Karin; Kaukiainen, Ari: Bullying as a group process: Participant roles and their rela tions to social status within the group. In: Aggr essive Behavior, 22(1), 1996, 1-15.
Schäfer, Mec hthild; Korn, Stefan: Mobbing in der Schule. In: Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (Ed.), Kinderreport Deutschland 2004 (pp. 275-286). München: kopaed, 2004.
Schäfer, Mechthild; Korn, Stefan; Br odbeck, Felix C.; Wolke, Dieter & Schulz, Henrike: Bullying roles in changing contexts: The stability of victim and bully roles from primary to secondary school. In: International Journal of Beha vioral Development, 29(4), 2005, 323-335.
Smith, Peter K.; Morita, Yohji; Junger-Tas, Josine; Olweus, Dan; Catalano, Richard F. & Slee, Phillip (Eds.): The nature of school bullying: A cross-national perspecti ve. London: Routledg e, 1999.
von Stefan Korn Pädagoge M.A. Doktorand an der LMU München zum Thema Mobbing Kontakt: Stefan.Korn(at)gmx(dot)net
Eine Langfassung des Artikels erschien in »proJugend« 2/2006. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung des Nachdruckes.
* In den englischsprachig en Ländern wurde der in Skandinavien verwendete Begriff Mobb(n)ing durch Bullying ersetzt (to bully . in etwa: sich rüpelhaft auf führen, tyrannisieren, schikanieren). In deutschsprachig en Publikationen werden mangels treffender sprachlicher Alternativen ebenfalls die Begriffe Bullying und Mobbing verwendet.