Positionspapier der Landesfachgruppe Gymnasien der GEW Bayern
Lern- und Entwicklungschancen für Schüler*innen in und nach der Pandemie
Wohlbefinden – Utopie für unsere Schüler:innen? Weichen stellen für eine gesunde Entwicklung in und nach der Pandemie. Landesfachgruppe Gymnasien fordert konkrete Maßnahmen auf mehreren Ebenen.
Seit über zwei Jahren befinden sich die Schüler*innen aller Schularten in einer sehr schwierigen Situation. In den Jahren 2020 und 2021 hat Unterricht wegen Lockdowns und Quarantänemaßnahmen in großen Teilen als Distanzunterricht, nur unter großen Einschränkungen oder gar nicht stattgefunden. Außerunterrichtliche Veranstaltungen und Unternehmungen sind fast vollständig abgesagt worden. Auch im Jahr 2022 gibt es weiterhin erhebliche Einschränkungen.
Durch teure Programme wie „gemeinsam.Brücken.bauen“ können möglicherweise manche Defizite ausgeglichen werden, aber tatsächlich dürfen Gesundheit, psychosoziale Situation, Wohlbefinden und Lernen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Reine Nachhilfeprogramme zur Bekämpfung von Lernrückständen versprechen keine nachhaltige Wirkung, weil sie der psychosozialen Situation von Schüler*innen in der Pandemie sowie den beschränkten zeitlichen und räumlichen Ressourcen zu wenig Rechnung tragen.
Die Folgen der Pandemie bei den Lernenden sind laut Forschungslage* kurzfristig nicht leicht zu beheben, sondern manifestieren sich durchaus mittel- wie langfristig. Die Studien zeigen auch das Ausmaß der psychischen Belastung der Lernenden durch die Pandemie und entsprechende Maßnahmen zu deren Bekämpfung. Insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozioökonomisch benachteiligten Familien hatten und haben unter dem Ausfall und der Beeinträchtigung des Präsenzunterrichts zu leiden. Fast alle Studien haben eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen durch die Schulschließungen dokumentiert. Die gesteigerte Belastung hat sich vor allem in depressiven Symptomen und Ängsten manifestiert. Daraus ergibt sich die Dringlichkeit, sich um die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Schüler*innen zu kümmern und die besondere Situation auch im schulischen Kontext anzuerkennen.
Die Landesfachgruppe Gymnasien der GEW Bayern fordert deshalb das Kultusministerium auf, dieser besonderen Situation für Lernende und Lehrende in den Schulen gerecht zu werden und umgehend folgende Maßnahmen direkt umzusetzen oder einzuleiten:
A) Maßnahmen auf Klassenebene – Mehr Zeit für Gemeinschaft – Zeit fürs „Lernen lernen“
Die Schüler*innen brauchen Zeit und Raum für ihre emotionale Entwicklung, das Lernen von Sozialverhalten und die Gemeinschaftsbildung. Die Erfahrungen der Jugendlichen in der Pandemie sollen wertschätzend aufgegriffen werden. Dazu bedarf es gruppenbezogener Angebote durch Schulsozialpädagog*innen und Klassenleitungen. Ebenso wird Zeit fürs „Lernen lernen“ und das Schließen von Lücken im Grundwissen benötigt. Die bisher vorgenommenen Streichungen und Schwerpunktsetzungen in den Lehrplänen entlasten die Lehrpläne nur um Inhalte, die auch vor der Pandemie nicht immer erfüllt werden konnten. Hier sollte mehr Freiraum für die Auswahl von Themen und Inhalten seitens der Lehrkräfte ermöglicht werden, welcher in pädagogischer Verantwortung auch gezielter nach der jeweiligen Lernsituationen der Klassen und Kurse genutzt werden kann.
Deswegen brauchen die Schulen:
- Eine Reduktion von Leistungserhebungen
- Eine Flexibilisierung von Prüfungsformen,
z. B. Leistungserhebungen in Form von Projektarbeiten - Eine umfassende Anpassung der Lehrpläne mit mehr Freiräumen
- Verankerung einer Klassenleitungsstunde im Stundenplan
B) Maßnahmen auf individueller Ebene – Persönliche Beratung und Unterstützung
Die Förderung der psychischen, physischen und sozialen Stabilität muss Priorität haben. Diese stellt die Grundlage für erfolgreiches Lernen und eine gesunde Entwicklung der Persönlichkeit dar.
Deswegen brauchen die Schulen:
- Angebote zur Gesundheitsvorsorge und -förderung für Schülerinnen und Schüler
- Eine Intensivierung der Schullaufbahnberatung
- Einen Ausbau der Angebote der individuellen Beratung durch Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen
C) Maßnahmen in der Oberstufe – Beratung und Flexibilisierung
Die Oberstufe und das Abitur müssen endlich flexibler gestaltet werden. Dies betrifft sowohl den Unterricht wie auch Leistungsbewertungen in der Qualifikationsphase und die Abiturprüfung. Die deutschlandweiten Bestrebungen für ein zentrales Abitur zur besseren Vergleichbarkeit der Abschlüsse sind eine Täuschung, solange die Lehrpläne und Stundentafeln in den Bundesländern nicht vergleichbar sind.
Vielmehr brauchen die Schulen:
- Ein Mentoring- oder Tutor*innensystem für die Oberstufe
- Den Ausstieg aus den zentralen Abiturprüfungsterminen
- Eine Überarbeitung der Prüfungsordnung zur Flexibilisierung der Abiturprüfung
- Eine tiefgreifende Oberstufenreform, wie die Landesfachgruppe sie bereits gefordert hat
D) Strukturelle Maßnahmen
Die oben angeführten Maßnahmen können nicht ohne eine Änderung von Rahmenbedingungen umgesetzt werden.
Vielmehr brauchen die Schulen:
- Den Aufbau von multiprofessionellen Teams an allen Schulen
- Mehr Anrechnungsstunden für Schulpsycholog*innen und Beratungslehrer*innen
- Mindestens ein*e Schulsozialpädagog*in an jedem Gymnasium
- Mindestens eine Anrechnungsstunde für Klassenleitungen
- Kleinere Klassen
- Gesundheitsvorsorge und -förderung für Lehrer*innen
- Ausbau der Lehrer*innenreserve
Bisher sind Lehr*innen außerhalb des Unterrichts zu häufig mit der Erstellung und Korrektur von Prüfungen beschäftigt, statt ihren Unterricht so vorbereiten zu können, dass er den individuellen Bedürfnissen der Schüler*innen gerecht wird. Für Einzelberatungen bleibt kaum Zeit und die Beratungslehrkräfte und Schulpsycholog*innen hatten schon vor der Pandemie mehr Anfragen als freie Termine.
Der Krankenstand unter Lehrkräften ist durch Coronainfektionen stark erhöht, schwangere Lehrkräfte unterliegen einem sofortigen Beschäftigungsverbot in der Schule und es droht auch der langfristige Ausfall einzelner Lehrkräfte durch Burnout. Vielerorts muss Unterricht entfallen, obwohl die vorhandenen Lehrkräfte bereits massiv Mehrarbeit leisten. Dies alles geht zulasten der Schüler*innen, die aufgrund der Pandemie im Gegenteil einen verbesserten Betreuungsschlüssel benötigen.
Die Landesfachgruppe Gymnasien der GEW Bayern schlägt das oben beschriebene Maßnahmenpaket vor, um der schwierigen gesamtpädagogischen Situation insbesondere an den Gymnasien in und nach der Pandemie gerecht zu werden und die Bildungs- und Erziehungsziele zugunsten der Schüler*innen zu erreichen.
*) Aufschluss geben beispielsweise folgende Quellen:
- Silke Anger, Sarah Bernhard, Hans Dietrich u. a.: Der Abiturjahrgang 2021 in Zeiten von Corona: Zukunftssorgen und psychische Belastungen nehmen zu. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; vgl. iab-forum.de sowie Studie „Berufliche Orientierung: Berufswahl und Studienwahl (BerO)“. Vgl. iab.de
- Institut für Demoskopie Allensbach: Lernen in Zeiten von Corona. Ergebnisse einer Befragung von Schülern und Eltern von Kindern der Klassenstufen 5 bis 10 im Frühjahr 2021. Download: telekom-stiftung.de
- ifo Bildungsbarometer 2021: Was denken die Deutschen zur Corona-Bildungspolitik und gesellschaftlichen Kompetenzen. Vgl. ifo.de
- ifo Institut: Coronakrise halbierte bei Kindern die Zeit für die Schule. Vgl. ifo.de
- Corona-Krise: Glaubst Du, dass Ihr durch die coronabedingten Schulschließungen mit dem Lernstoff im Rückstand seid? (Umfrage unter Schülern). Vgl. statista.com
- BR24-Redaktion: Bildungsforscher: Erhebliche Lesedefizite bei Grundschülern. Vgl. br.de v. 13.12.2021
- BR24-Redaktion: Corona-Pandemie: Deutlich mehr Jugendliche depressiv. Vgl. br.de v. 28.7.2021
GEW-Fachgruppe Gymnasien, Lehrerin
Im HPR für die Gruppe der Lehrer*innen anGymnasien und im Bezirkspersonalrat beim Landesamt für Schule in Gunzenhausen