Krieg in der Ukraine: Wider die Verengung der Perspektive – ein didaktischer Vorschlag
Politische Einordnungen des Krieges in der Ukraine gibt es inzwischen zahlreiche, auch Vorschläge, wie er beendet werden könnte
Dennoch fühlen sich viele Menschen durch die Gefühle, Gedanken, Reaktionen und Interpretationen, die der Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgelöst hat, überfordert. Die folgenden Thesen sollen helfen, den Überblick nicht zu verlieren. Sie wollen die komplexe Lage in kleinen Schritten so zerlegen, dass verständlich wird, was da gerade geschieht. Leserinnen und Leser mögen prüfen, bis zu welchem Punkt sie das Angebot annehmen können und an welcher Stelle sie nicht mehr folgen können oder wollen.
A. Der Ukraine-Krieg
1. Gefühle sind wichtig
Auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine vom 24. Februar 2022 reagierten viele Menschen im Westen und auch anderswo mit Entsetzen. Einige erinnerten sich an eigene persönliche Kriegserfahrungen oder an medial erlebte Kriege der vergangenen Jahrzehnte und an das unermessliche Leid, das sie in die Welt gebracht hatten und bis heute immer noch bringen. Einige haben Angst, dass Russland nicht in der Ukraine haltmachen würde. Einige fragen sich, was geschehen würde, wenn Atomkraftwerke ins Kriegsgeschehen einbezogen würden. Und einige befürchten, dass der Krieg in eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der NATO münden könnte.
Viel zu wenig wird die Rolle der Medien bewusst, die an diesen gefühlsmäßigen Reaktionen stets mitwirken. Ob die Medien die Realität des Krieges aus allen Perspektiven neutral beleuchten und seriös einordnen, ist nicht immer sicher. Es heißt bekanntlich, im Krieg sei die Wahrheit das erste Opfer. In der Tat gibt es viele Beispiele für die Instrumentalisierung der Medien zu Propagandazwecken.
2. Gewinnen und verlieren
Viele Menschen im Westen geben vor dem Hintergrund ihrer gefühlsmäßigen Reaktionen auf den Krieg Putin die Alleinschuld und haben weiterhin ein unerschütterliches Vertrauen in die westlichen Medien und die westliche Politik. Den Kritiker*innen Putins geht es vor allem darum, den Aggressor zurückzuschlagen und zu bestrafen. Damit wird der Krieg die logische Fortsetzung der Politik „mit anderen Mitteln“ (Carl von Clausewitz). Diese Politik, so heißt es, müsse dafür sorgen, dass das Gute siegt und das Böse bestraft wird. Am wichtigsten sei also, dass Putin den Krieg nicht gewinnt.
Was gewinnen und verlieren genau bedeutet, bleibt dabei meist im Dunkeln. Genauso wie die Frage, wodurch bei einem Streit eine der beiden streitenden Parteien legitimiert sein kann, für die Bestrafung der anderen Partei zuständig zu sein. Der Spruch „Putin darf nicht gewinnen“ erinnert nicht nur an die aus der Geschichte vielfach bekannte Alternative „Siegfrieden versus Verständigungsfrieden“ (etwa im Ersten Weltkrieg). Bemerkenswert ist, dass dabei die Frage, wie das Leiden der Opfer des Krieges (auf beiden Seiten!) am schnellsten zu beenden ist, eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Die Möglichkeit einer Zivilen Verteidigung[1] ist deshalb kein Thema im öffentlichen Diskurs.
3. Putin verstehen wollen?
Wer sich nicht mit seinen auf Gefühle (These 1) gestützte Parteinahme für den Westen (These 2) begnügen möchte, muss sich mit dem Krieg in der Ukraine rational auseinandersetzen. Das heißt, er*sie muss sich darum bemühen, Putins Entscheidung für den Angriff zu verstehen, wobei hier der Unterschied zwischen Verständnis und Einverständnis entscheidend ist. Verstehen bezieht sich auf objektive Tatsachen, Einverständnis auf deren subjektive Bewertung. Nur um das Erste geht es hier: den rationalen Nachvollzug eines objektiven Ereignisses mit all seinen Voraussetzungen.
Verstehen im Sinne von Nachvollziehen ist erstens ein Gebot der Klugheit, weil man nur so herausfinden kann, worauf man sich als Betroffener einstellen muss (im Militärjargon: „Feindbeobachtung“). Verstehen im Sinn von Nachvollziehen ist zweitens auch ein Gebot des aufklärerisch-humanistischen Grundverständnisses der Moderne, weil jeder Mensch, auch der schwerste Verbrecher, eine Würde hat und damit (anders als ein Tier oder eine Pflanze) den legitimen Anspruch erheben kann, nicht als reines Objekt behandelt zu werden, sondern als mit einem Willen begabtes Subjekt. Und dieser Anspruch kann nur erfüllt werden, wenn sich seine Mitwelt bemüht, diesen Willen zu erkennen und sich die Hintergründe seiner Entstehung bewusst zu machen.
4. Moral-Ethik, Recht und internationale Politik
Zur kritischen Beurteilung einer Tatsache wie etwa eines Angriffskriegs sind moralisch-ethische und völkerrechtliche Maßstäbe („Angriff“, „Kriegsverbrechen“) zwar wichtig, aber nicht ausreichend, und zwar aus mindestens zwei Gründen:
Erstens blenden solche Maßstäbe die hinter dem unmittelbaren Auslöser ebenfalls wirksamen Gegebenheiten (Vorgeschichte, Umstände, Ursachen etc.) aus. Im Extremfall können solche Gegebenheiten das moralische und rechtliche Urteil sogar auf den Kopf stellen. Mit zeitlichem Abstand wird in der Geschichtsschreibung deshalb in Zusammenhang mit Kriegen üblicherweise zwischen Auslöser und Ursache unterschieden. Der deutsche Einigungskrieg von 1870 wurde beispielsweise durch eine Kriegserklärung Frankreichs ausgelöst, beruhte aber auf einer gezielten Provokation Bismarcks (und endete nach wenigen Wochen mit der Niederlage Frankreichs).
Und zweitens gibt es eine erdrückende Fülle von Belegen dafür, dass Politik nicht primär moralisch-ethischen oder rechtlichen Maßstäben folgt. Maßgeblich sind vielmehr Interessen und Machtkalküle, und zwar ganz besonders in jenen Bereichen, die wenig reguliert sind: in der zwischenstaatlichen und internationalen Politik. Das zeigt etwa der Umgang mit Migrant*innen (z.B. im Mittelmeer, das zum Massengrab wurde), die weitgehende Gleichgültigkeit gegen den Hunger in der Welt und die lange Liste der vom Westen (auch von den NATO-Staaten) geführten Kriege und deren meist recht zweifelhafte Rechtfertigung. Weil sich staatliche Akteure erfahrungsgemäß nur so lange an Moral/Ethik und Recht halten, wie Interessen nicht bedroht sind, die von ihnen als fundamental eingestuft werden, muss eine vertiefte Analyse internationaler Konflikte und Kriege immer auch die globalen politischen Machtverhältnisse und ihre Entwicklung einbeziehen.
5. In der Haut des anderen
Wer bereit ist, sich nicht mit seinen Gefühlen (These 1) zu begnügen und darüber hinaus die russische Politik nicht nur moralisch-ethisch und rechtlich zu verurteilen, sondern wirklich verstehen zu wollen (These 2 und 3), sollte sich an einem allgemein anerkannten Prinzip orientieren. Diesem Prinzip zufolge gilt es bei Konflikten aller Art zunächst zu versuchen, die Perspektiven aller Konfliktparteien nachzuvollziehen, ehe ein Urteil gefällt werden kann (audiatur et altera pars), sich also buchstäblich in die Haut des anderen zu versetzen.
Die Ukraine verweist auf den großflächigen Einmarsch Russlands in ukrainisches Staatsgebiet, auf die vorausgegangene militärische Unterstützung der Separatist*innen in der Ostukraine durch Russland, die Annexion der Krim durch Russland und den seit Jahrzehnten existierenden russischen Imperialismus und Militarismus (Verletzung der Minsker Abkommen, Kriege in Tschetschenien und Georgien, ggf. auch Syrien).
Russland verweist auf seine Pflicht zur Unterstützung ostukrainischer Separatist*innen nach der Unabhängigkeitserklärung der beiden mehrheitlich russischsprachigen Provinzen, die Existenz einflussreicher nazistischer Kräfte in der Ukraine, die Osterweiterung der Nato, die als Wortbruch des Westens erfahren wird, einschließlich der Bestrebungen der weiteren Ausdehnung der Nato auf die Ukraine und Georgien und zuletzt auf eine jahrhundertelange Tradition der Zugehörigkeit des ukrainischen Territoriums zu Russland sowie die moralische Dekadenz des Westens.
Die überwiegende Mehrzahl der Staaten der Welt unterstützt die Ukraine (vgl. Abstimmung in Generalversammlung der UN, teilweise Beteiligung an der Embargopolitik, teilweise Lieferung von Waffen, Ausbildung von Soldat*innen und finanzielle Unterstützung). Viele größere und kleinere Staaten wie China, Indien, Vietnam, Israel, Algerien, Südafrika, Bolivien, Kuba u.a. verhalten sich neutral. Und einige wenige unterstützen Russland (Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea).
Exkurs 1: Die G7-Staaten, deren Repräsentant*innen sich gern als Führer*innen der Welt sehen, repräsentieren tatsächlich nur rund ein Zehntel der Weltbevölkerung.
B. Wo Kriege herkommen und wo sie hinführen (können)
6. Macht und Machtverschiebungen
Zum Krieg in der Ukraine kam es nicht aus heiterem Himmel. Weil es nicht primär moralisch-ethische und rechtliche Gründe sind, die Kriege begründen oder verhindern (These 4) und weil die Perspektiven der Beteiligten und Beobachter*innen einbezogen werden müssen (These 5), ist es auf der Suche nach Verständnis (im Sinne von Nachvollziehen) hilfreich, sich im nächsten Schritt mit generellen Mustern der Entstehung von Kriegen näher zu befassen. Die Perspektive muss also, auch angesichts der weit fortgeschrittenen Globalisierung, zeitlich und räumlich ausgeweitet werden.
Seit 1990 findet eine machtpolitische Verschiebung statt: Das mit dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts destabilisierte Russland verliert trotz seines Status als hoch gerüstete Atommacht zusehends seine globale politische Bedeutung. Die USA dagegen sehen sich mit ihren beispiellosen militärischen Fähigkeiten in ihrem Bemühen gestärkt, als Führer der Nato die Weltordnung in ihrem Sinn allein zu bestimmen. Sie erkennen die Autorität der Vereinten Nationen (UN) nur mit Einschränkung an (Kriege ohne UN-Mandat, keine Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs und, besonders durch republikanische Präsidenten, systematische Schwächung von UN-Organisationen durch Entzug von Finanzmitteln).
Ökonomischer Hintergrund dieser Machtverschiebung ist eine seit 1990 stattfindende globale ökonomische Verschiebung: Russland lebt im Wesentlichen vom Verkauf fossiler Energieträger. Die USA mit ihrer starken Binnenwirtschaft fallen im Export seit Langem immer mehr zurück, die EU, mit Deutschland an der Spitze, bleibt mit ihrem zwar zurückgehenden Wachstum dennoch bisher wirtschaftlich relativ erfolgreich. Und China erlebt ein beispielloses Wirtschaftswachstum und wird so als Exportland zu einem starken Konkurrenten des Westens, vor allem der USA.
Und die Ukraine? Sie ist sowohl für Russland wie für westliche Konzerne von großem Interesse. Besonders im Osten werden Europas größte Lithiumvorkommen vermutet, die Ukraine verfügt über große Mengen Agrarrohstoffe (Kornkammer), über ein hohes Arbeitskräftepotenzial und damit auch über ein entsprechendes Potenzial an Kaufkraft. Es ist gut nachvollziehbar, dass die Mehrheit der Ukrainer*innen sich so gut wie möglich wirtschaftlich und politisch nach Westen orientieren wollen, weil er militärisch, politisch und ökonomisch eindeutig attraktiver für sie ist.
7. Über die mentale Vorbereitung von Kriegen
Machtverschiebungen gehen immer mit kulturell-ideologischen Entwicklungen einher. Die globale Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Kapital und Kaufkraft führt zur Verschärfung eines fundamentalen Gegensatzes: Auf der einen Seite steht aufgrund des weiteren Fortschreitens der Globalisierung das zunehmende Erfordernis einer trans- und internationalen Grundhaltung. Auf der anderen Seite steht das Verharren in einer tief verankerten Neigung zum Nationalismus. Aufsteigende wie absteigende Mächte tendieren dabei ganz besonders stark dazu, den Wert der eigenen Nation über den aller anderen Nationen zu stellen. Der Nationalismus der aufsteigenden Nationen kann als „Entwicklungsnationalismus“ (Dieter Senghaas), der der absteigenden Nationen als „Verzweiflungsnationalismus“ (Robert Kurz) bezeichnet werden. Die chinesische Politik etwa wird von Ersterem angetrieben, die Politik Russlands eher von Letzterem, die ukrainische von einer Mischung, die treffend als „heroischer Nationalismus“ (Jürgen Habermas) bezeichnet wurde. Allen Nationalismen ist gemeinsam, dass sie zu besonderer Repression nach innen und zu besonderer Offensivität bis hin zur offenen Aggressivität nach außen tendieren.
Und die USA? Auch sie zeichnen sich durch eine problematische kulturell-ideologische Haltung aus: Den zunehmenden Abstieg ihrer Exportwirtschaft kompensiert die Regierung mit einer rigorosen Verteidigung der globalen politisch-militärischen Vormachtstellung. Obama: „Jene die meinen, dass Amerika sich im Niedergang befindet oder seine weltweite Führungsrolle verlieren würde, irren sich. … Amerika muss auf der Weltbühne immer führen. … Ich glaube mit jeder Faser an den amerikanischen Exzeptionalismus.“ (Rede in Westpoint 2014) Biden: „Ich will dafür sorgen, dass Amerika wieder die Welt führt“, weil „keine andere Nation die Fähigkeit dazu hat.“ (Foreign Affairs, March/April 2020) Deshalb auch die beispiellosen Militärausgaben (elfmal mehr als Russland). Deshalb das Festhalten des Westens an einer unilateralen Herrschaft der USA, die auch kriegerische Mittel einschließt (lange Geschichte der US-Interventionen in Mittel- und Südamerika entsprechend der Monroe-Doktrin, Kriege in Vietnam, Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen, ggf. auch Syrien). Und deshalb auch die propagandistische Zuspitzung des aktuellen Konflikts als Kampf um Freiheit/Unfreiheit und Demokratie/Autokratie.
In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, dass sich die Spannung zwischen aufsteigenden und absteigenden Ländern letztlich in Kriegen entlädt (genauso wie übrigens innerhalb von Ländern im Fall wachsender ökonomischer Auf- und Abstiege in der Bevölkerung die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Umstürze zunimmt). Deshalb kann die seit vielen Jahren massive US-Unterstützung für die Ukraine auch als Warnschuss gegen China, der Ukraine-Krieg also auch als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und China verstanden werden.
Exkurs 2: Wer die russische Reaktion auf die Osterweiterung der NATO für übertrieben hält, stelle sich für einen Augenblick vor, wie die USA reagieren würden, wenn ein von China geführtes Verteidigungsbündnis sich von Südamerika in Richtung Mittelamerika erweitern würde (siehe auch Kuba-Krise von 1962).
8. Sicherheitspolitik und Sicherheitsdilemma
Die kapitalistische Globalisierung wird von konkurrierenden multinationalen Konzernen vorangetrieben und durch nationale Regierungen und transnationale Bündnisse nur ansatzweise reguliert. Resultat ist, dass in Bezug auf zwischenstaatliche Verhältnisse weithin das Prinzip „Macht vor Recht“ gilt. Dieses Prinzip verfolgt – entgegen allen moralisch-ethischen und rechtlichen Beteuerungen (These 4) – gemäß der herrschenden (neo-)realistischen Schule der internationalen Politik das Ziel, zwischenstaatliche Sicherheit grundsätzlich durch militärische Abschreckung zu gewährleisten.
Abschreckungsstrategien haben ein großes Problem. Aufgrund ihrer inneren Dynamik führen sie zwangsläufig zu einem Sicherheitsdilemma: Die Erhöhung der relativen Sicherheit der einen Seite geht immer zugleich mit der Verringerung der relativen Sicherheit der anderen Seite einher. Resultat ist das fortwährende Schrauben an der Bedrohungsspirale, begleitet auf beiden Seiten von der systematischen Erhöhung des Aufwands für militärische Sicherheit (2020 weltweit mehr als zwei Billionen Dollar) und damit auch von der Erhöhung des Risikos eines Krieges „aus Versehen“. Dass dieses sicherheitspolitische Dilemma zwar den Aufwand auf jeder Seite, nicht aber die Sicherheit insgesamt erhöht und dass jedes Kriegsende zugleich den Keim zum nächsten Krieg legt, hat die historische Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte vielfach gezeigt.
9. Massenvernichtungswaffen und Zivilisation
Zusätzlich zum Sicherheitsdilemma macht die Existenz von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen eine Korrektur der herrschenden Sicherheitspolitik unabdingbar. Zum einen steigt auch hier das Risiko eines Einsatzes aus Versehen, zum andern das Risiko eines beabsichtigten Einsatzes durch jene Akteure, die glauben, mit anderen Mitteln ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten zu können. Wenn diese Akteure zudem moralisch-ethisch skrupellos genug sind, droht ein Wettlauf um das Einreißen zivilisatorischer Standards.
Niemand kann ernsthaft glauben, so die Schwedin Beatrice Fihn von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, „dass man das Spiel mit dem Weltuntergang gegen einen Diktator“ gewinnen kann. Diktator*innen und Autokrat*innen müssen sich in der Tat gegenüber den Bürger*innen nicht ständig rechtfertigen, demokratische Regierungen schon.
10. Schrumpfen der ökologischen Nische
Auch aus ökologischen Gründen ist die Wechselwirkung zwischen der ressourcenzehrenden nationalen Abschreckungspolitik (Unilateralismus) und der schrumpfenden ökologischen Nische des Menschen fatal. Es handelt sich um einen klassischen Teufelskreis (technisch: positive Rückkopplung): je mehr Rüstung und Krieg, desto enger die Nische, je enger die Nische desto lauter der Ruf nach Rüstung und Krieg. Diese Dynamik führt in den Abgrund. Eine staaten- und bündnisübergreifende Sicherheitspolitik (Multilateralismus) wird immer mehr zu einer Frage des Überlebens der Spezies.
Exkurs 3: Wenn im Zusammenhang mit Krieg von „wir“ die Rede ist, sollten wir uns stets bewusst sein, wer von Kriegen profitiert und wer unter ihnen leidet. Die Schrumpfung der ökologischen Nische lässt allerdings den Kreis der Opfer tendenziell ins Unendliche wachsen, den Kreis der Profiteur*innen entsprechend schrumpfen.
C. Der ewige Frieden
11. Entwaffnung der Staaten
Aufgrund der Gliederungspunkte 7 bis 10, die ich als weitere Thesen eingeführt habe, muss Friedenspolitik höchste Priorität erhalten. Sie kann auf die von Immanuel Kant formulierte Idee vom „ewigen Frieden“ (1795) zurückgreifen, die nach dem Ersten Weltkrieg im Völkerbund, nach dem Zweiten Weltkrieg in der UN institutionalisiert wurde. Dieser Weg muss mit aller Entschiedenheit weiterverfolgt werden. Konkret erfordert er den Aufbau regionaler und überregionaler kollektiver Sicherheitssysteme (wie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)/die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)). Dieser Prozess muss längerfristig mit der schrittweisen Entwaffnung aller Staaten und dem parallelen Aufbau eines echten Gewaltmonopols der UN einhergehen. Nur eine solche Gewalt, die nicht Partei (wie die NATO) ist, sondern über den Parteien steht und von allen legitimiert und respektiert ist, kann Konflikte dauerhaft schlichten und somit einen nachhaltigen Frieden gewährleisten.
Das Hauptproblem dabei ist: Die Initiative zu einer solchen globalen Transformation der Strukturen müsste von jenen Staaten ausgehen, die derzeit über das wirksamste Zerstörungspotenzial verfügen. Nur diesen Staaten können realistischerweise erste Schritte der Abrüstung zugemutet werden. Aber genau dort ist die Bereitschaft zu einer solchen Abrüstung am geringsten ausgeprägt.
12. Wirtschaftsordnung und Weltfrieden
Dauerhafte Sicherheit erfordert mehr als dauerhaften Waffenstillstand. Deshalb unterscheidet die Friedensforschung einen „negativen“ von einem „positiven“ Friedensbegriff, wobei letztgenannter auch die sozialen Voraussetzungen für die Überwindung des Krieges als Mittel der Konfliktlösung einschließt. Positiver Frieden bedeutet die Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen aller Menschen und die Etablierung insgesamt gerechter sozialer Verhältnisse. Das gilt für die Verhältnisse zwischen den Staaten genauso wie zwischen Bürger*innen. Mit anderen Worten: Formale Gleichheit der Rechte wird ohne substanzielle Gleichheit der Lebenschancen keinen dauerhaften Frieden stiften.
Längst wissen wir, dass diese materielle Sicherung innerhalb der planetaren ökologischen Grenzen bleiben muss. Gerechtigkeit muss also nicht nur intra-, sondern auch intergenerationell gedacht werden. Visionäres Leitbild dieser Ausweitung ist der*die Weltbürger*in, der*die sich gemeinsam mit all den anderen Weltbürger*innen darum bemüht, dass „genug, für jede*n und immer“ zur Verfügung steht (Nachhaltigkeitsdefinition eines unbekannten afrikanischen Dorfältesten).
13. Die größten Sorgenkinder
Zwischenstaatliche Sicherheit und zwischenstaatlicher Frieden wird nicht nur durch jene Mächte gefährdet, die ihren Status in der Hierarchie der Länder bedroht sehen und ihren Abstieg fürchten. Die Gefahren gehen darüber hinaus vor allem von jenen Ländern aus, die ökonomisch nicht nachhaltig wirtschaften: entweder, weil sie ihre materielle Versorgung ganz auf dem Verkauf nicht-erneuerbarer Ressourcen aufgebaut haben (die zudem aus ökologischen Gründen am besten im Boden bleiben sollen) oder weil ihre Wirtschaft auf ständiges Wachstum programmiert ist. Letztere sind – entsprechend dem global derzeit herrschenden Fortschrittsmodell (Zwangslogik der Kapitalakkumulation) – die überwiegende Mehrheit der Länder, die als hoch entwickelt gelten.
Beide Arten des wirtschaftlichen Agierens haben das Problem der tendenziellen Überschreitung der Grenzen der natürlichen Lebensgrundlagen, die jeweiligen Staaten sind also insofern strukturell nur sehr begrenzt friedensfähig. Sie neigen zudem dazu, mit der Zeit immer rücksichtsloser gegenüber moralischen und zivilisatorischen Ansprüchen in Bezug auf die Wahl ihrer Handelspartner und die Standards ihrer Geschäfte zu werden, weil ihr Wohlstand und die Finanzierung ihrer sozialen Sicherungssysteme vom erfolgreichen Verkauf ihrer Ressourcen beziehungsweise ihrer Waren existenziell abhängig sind. Je näher sich solche Länder auf den ökonomischen oder/und ökologischen Abgrund zubewegen, desto größer wird die Gefahr von Panik und Kontrollverlust. Solche Länder müssen beim Umbau ihrer Wirtschaftsordnung hin zu wirklicher Nachhaltigkeit ganz besondere Anstrengungen unternehmen und verdienen deshalb die besondere Unterstützung durch die Weltgemeinschaft. Friedenspolitik hat neben der wirtschaftspolitischen also immer auch eine sozialpolitische und sozialpädagogische Komponente.
Der langfristige Aufbau eines globalen Gewaltmonopols und der Ausgleich der Lebenschancen innerhalb der und zwischen den Generationen wird nur gelingen, wenn der Weg zum „ewigen Frieden“ als Aufgabe der gesamten Menschheit begriffen wird. Dazu muss der Mensch seine kollektive Identität, die gegenwärtig meist national oder bestenfalls kontinental beschränkt ist, global ausweiten. Das erfordert nicht nur die Überwindung von Feindbildern. Letztlich geht es um die Öffnung der in den vergangenen 500 Jahren dominant gewordenen europäischen Vernunft für afrikanische, asiatische und indigen-amerikanische Perspektiven. „Die Vernunft ist das gemeinsame Gut aller Menschen. Sie wohnt den Menschen seit Anbeginn ihrer Menschwerdung aus der Natur inne und ist das Movens der ihnen aufgegebenen selbstbestimmten Menschwerdung in der Geschichte.“ (Wolfgang Schmied-Kowarzik) Ideelle Vielfalt und interkulturelle Kommunikation sind der notwendige Nährboden, auf dem jene vernunftgetragene Weltbürgerschaft gedeihen kann, die Immanuel Kant vorschwebte. So besehen ist Friedenspolitik zugleich immer auch Kultur- und Bildungspolitik.
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Zum Autor
Prof. Dr. Fritz Reheis hat unter anderem Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Philosophie studiert und ist promovierter Soziologe und habilitierter Erziehungswissenschaftler (Schwerpunkt: Anthropologie). Er war zwischen Mitte der 1970er- und den frühen 1980er- Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Nach seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer war er Hochschullehrer für die Didaktik der politischen Bildung an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen zur Ost-West-Konfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg, Ideologiekritik, Liberalismus und Sozialstaat, Ökologie der Zeit und Nachhaltigkeit.