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Kein Grund zum Feiern – 50 Jahre „Radikalenerlass“

Am 28. Januar 1972 verständigten sich der damalige Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder darauf, dass die Mitgliedschaft in einer Organisation, die „verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“, Zweifel an der Verfassungstreue begründe.

Dies rechtfertige die Ablehnung einer Bewerbung für den öffentlichen Dienst. Am 28. Januar 2022 jährt sich nun der sogenannte „Radikalenerlass“ zum fünfzigsten Mal.

Die Feststellung einer „Verfassungsfeindlichkeit“, ein schwammiger politischer Kampfbegriff, wurde an den Verfassungsschutz delegiert: Instrument zur Umsetzung des Beschlusses war die neu eingeführte „Regelanfrage“, der sich alle Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst unterziehen mussten, die aber auch auf dort bereits Festangestellte ausgeweitet wurde. Im Zentrum der Maßnahmen standen die Beschäftigten in Bildungseinrichtungen (Schulen und Hochschulen), hauptsächlich betroffen waren also die Organisationsbereiche der GEW. In einzelnen Fällen traf es aber auch Briefträger und Lokführer. In den folgenden Jahren führte dieser Beschluss zu rund 11.000 Berufsverbotsverfahren, 1.250 Nichteinstellungen, 2.200 Disziplinarverfahren von bereits Beschäftigten und 260 Entlassungen. Dabei wurde durchweg nicht etwa arbeits- oder dienstrechtlich mit etwaigen Verfehlungen argumentiert, sondern ausschließlich mit der politischen Gesinnung der Betroffenen. Über den Umfang der Überprüfungen im Zuge der „Regelanfrage“ liegen nur Schätzungen vor, die sich bei etwa 3,5 Millionen überprüften Personen einpendeln. Eine enorme Zahl, die darin begründet ist, dass das gesamte soziale Umfeld der Bewerber*innen mit ausgeschnüffelt wurde.

Versuche der Rechtfertigung

Die vermeintliche Logik des „Radikalenerlasses“ brachte der damalige Hamburger Bürgermeister Peter Schulz (SPD) auf den Punkt: „Es genügt der ernsthafte Zweifel daran, dass der Bewerber sich für unsere demokratische Grundordnung einsetzt. Er hat, wenn Sie so wollen, die Beweislast.“ Schuldig bei Verdacht und Umkehrung der Beweislast für Beschuldigte – so der Höhepunkt „rechtsstaatlichen Denkens“ durch einen Amtsträger.

Die Befürworter*innen dieser Maßnahmen argumentierten, es könne gar keine Berufsverbote geben. Es handele sich vielmehr um einen vermeintlich „kommunistischen Kampfbegriff“, da eine bestimmte Ausbildung oder ein bestimmtes Studium keinen Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsplatz schaffen würde. Für die Privatwirtschaft trifft dies auch zu. Eine bloße Stellenbewerbung erzeugt keinen Anspruch auf Einstellung. In Schule und Hochschule jedoch hat der Staat zu 95 Prozent das Beschäftigungsmonopol. Der kleine Sektor der Privatschulen, an dem tatsächlich einige wenige Berufsverbotsopfer unterkamen, konnte allerdings die Dimension von Nichteinstellungen nicht kompensieren. Zu bedenken ist auch, dass Anfang der 70er-Jahre in manchen Bundesländern 25 Prozent der Studienplätze auf das Lehramt ausgerichtet waren.

Eine politische Einordnung

Warum verstieg man sich zu diesen Maßnahmen? Zumal die Koalitionsregierung (SPD/FDP) 1969 angetreten war, um „mehr Demokratie zu wagen“. Berufsverbotsmaßnahmen trafen fast ausschließlich linke bzw. als „linksextremistisch“ eingestufte Organisationen, die in allen Fällen legal waren. Die Berufsverbote der 70er-Jahre standen in einer wesentlich längeren Tradition. Die BRD wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als antikommunistischer Frontstaat im Kalten Krieg gegründet. In dieser Logik erfolgte 1956 das KPD-Verbot. Bereits 1950 wurde der sogenannte „Adenauer-Erlass“ verkündet. Er zählte dreizehn Organisationen – elf linke und zwei faschistische – auf, deren Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen oder von diesem von vornherein fernzuhalten waren. Als in den 60er-Jahren aufgrund der Außerparlamentarischen Opposition (APO) und der 68er-Studierendenbewegung linke und sozialistische Ideen in der Jugend an Boden gewannen, wurde 1968 mit der Gründung der DKP wieder eine kommunistische Partei zugelassen (auch mit Unterstützung der Bundesregierung). Der mit dieser Partei verbundene Marxistische Studentenbund (MSB) Spartakus gewann starken Einfluss an den Hochschulen und bildete in Kooperation mit Nichtorganisierten und sozialdemokratischen Verbänden wie dem SHB viele Allgemeine Studierendenausschüsse (ASten). An anderen Hochschulstandorten dominierten die sogenannten K-Gruppen, die sich an der Volksrepublik China orientierten. Die Resonanz dieser politischen Strömungen vergrößerte sich erheblich, nachdem mit der Hochschulreform die Studierendenzahlen drastisch anstiegen. Anfang der 70er-Jahre bildeten linke Koalitionen die weit überwiegende Mehrheit der Studierendenvertretungen. Vor diesem Hintergrund eröffneten CDU/CSU, insbesondere nachdem sie 1969 auf Bundesebene in die Opposition geraten waren, ein publizistisches Dauerfeuer gegen eine „kommunistische Unterwanderung“ und die „Volksfront an den Hochschulen“. Die Bundesregierung musste sich mit ähnlicher Rhetorik aufgrund ihrer Vertrags- und Entspannungspolitik mit den sozialistischen Ländern eine Verharmlosung des „Kommunismus“ vorwerfen lassen. Offenbar diente ihr der „Radikalenerlass“, den Willy Brandt wenige Jahre später als „Irrtum“ eingestand, dem Zweck innenpolitischer Entlastung, um ihre Hauptprojekte – Entspannungspolitik mit dem Osten und innere Reformen (Bildung, Justiz, Familienrecht etc.) – abzusichern.

Politische Konsequenzen

Die politischen Wirkungen dieses Erlasses waren fatal. Betroffen waren keineswegs nur unmittelbare Mitglieder der inkriminierten Organisationen. Unter „Beobachtung“ im Sinne einer „Kontaktschuld“ gerieten auch Aktivist*innen politischer Bündnisse, in denen Kommunist*innen mitarbeiteten; etwa der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten), der VDJ (Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen) oder der DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen) etc. Dies beförderte ein Klima der Einschüchterung, der Entpolitisierung und der Denunziation. Ein banales Beispiel: Im Vor-Internet-Zeitalter waren Unterschriftensammlungen auf Papier wesentlich häufiger als heute ein Mittel, um auf Probleme hinzuweisen und politische Forderungen zu bekräftigen. Ich erinnere mich selbst daran, dass darauf Angesprochene häufig äußerten, sie würden zwar die Forderungen gänzlich unterstützen, könnten allerdings nicht riskieren, mit den „falschen“ Leuten auf einer Adressenliste zu stehen. Im Kern führte der „Radikalenerlass“ also zu einem antidemokratischen Verbot freier politischer Betätigung.

Was schließlich den entscheidenden Ausschlag für das Auslaufen der Berufsverbotspraxis gab, ist umstritten. Jedenfalls häufte sich die Kritik aus dem In- und Ausland; insbesondere aus Frankreich, wo eine damals sehr starke Kommunistische Partei (PCF) ab 1972 sogar kurzzeitig in der Regierung war. Der französische Publizist Alfred Grosser erhielt 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und prangerte in seiner Preisrede die Berufsverbote auch am Beispiel der Lehrerin Sylvia Gingold an, der Tochter eines jüdischen kommunistischen Emigranten, der in der französischen Resistance gekämpft hatte. Die bundesweit koordinierten „Initiativen gegen Berufsverbote“ entwickelten sich in den 70er-Jahren zu einer Massenbewegung. Hier zogen diverse linke Organisationen, die ansonsten auch zerstritten waren, an einem Strang. In der zweiten Hälfte der 70er-Jahre entwickelte sich eine anhaltende Lehrer*innenarbeitslosigkeit, die „politische“ Nichteinstellungsgründe zunehmend erübrigte. 1980 dann schafften die SPD-regierten Länder die „Regelanfrage“ ab; Bayern und Baden-Württemberg erst Anfang der 90er-Jahre. Eine „Bedarfsanfrage“ für Einzelfälle blieb jedoch bestehen und in Bayern wird vor einer Einstellung in den öffentlichen Dienst die Zugehörigkeit zu diversen Organisationen – von al-Qaida bis zur Linkspartei – abgefragt. Auch diese „Reste“ gehören abgeschafft und die flächendeckende Gesinnungsschnüffelei darf nie wieder aufleben. Eine Rehabilitierung und Entschädigung der von Berufsverboten Betroffenen wäre zudem ein Zeichen demokratischer Stärke.

von Torsten Bultmann

Mitglied des Beirats des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler