Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft begrüßt das Nachdenken über jahrgangskombinierte Klassen in Bayern. Die Umsetzung in der geplanten bzw. bereits praktizierten Form lehnen wir jedoch ab, da die notwendigen Voraussetzungen nicht gegeben sind.
In den letzten Jahren wurde viel über die Notwendigkeit der Neugestaltung des Übergangs von der Kindertagesstätte in die Grundschule diskutiert, und im Zusammenhang damit über jahrgangskombinierte (Eingangs-)Klassen. Die GEW initiierte diese Diskussion mit, denn entwicklungspsychologisch, pädagogisch und didaktisch besteht keinerlei Notwendigkeit, Kinder nach ihren Geburtsjahren sortiert einzuschulen und zu unterrichten. Im Gegenteil: Heterogene Lerngruppen sind homogenen überlegen. Heterogenität bezieht sich dabei nicht nur auf das Geburtsjahr der Kinder, sondern auf deren unterschiedliche Persönlichkeiten, Biografien und jeweilige Entwicklungsstadien. Kinder sind vom Kindergarten an daran gewöhnt, mit "Größeren" und mit "Kleineren" zusammen zu sein, zu spielen, zu lernen, und ggf. Rücksicht zu nehmen. Vieles spricht dafür, dies auch in der Schule fortzusetzen, zumindest in der Schuleingangsphase. Schulanfänger/innen, die bei der Einschulung in eine Gruppe kommen, in der auch Kinder sind, die schon ein Jahr Schulerfahrung haben, haben es leichter, sich an die neue Umgebung, an neue Regeln und den Schulalltag zu gewöhnen. Sie übernehmen Verhaltensmuster von "erfahrenen" Kindern und können sich in einen vorhandenen Rahmen einfügen, der in (vermeintlich) altershomogenen Jahrgangsklassen erst zu schaffen ist. Kindern, die schon ein Jahr in der Schule sind, tut es gut, ihre Erfahrungen weiter geben zu können, sei es bei der Orientierung im Schulhaus, sei es bei der Unterstützung von Lernprozessen. Kinder lernen nachweislich leicht und gern von anderen Kindern. In einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsphase, in der die Kinder in der Regel zwei Jahre bleiben (ein Jahr und drei Jahre sind grundsätzlich auch möglich) kann besser auf die unterschiedlichen Lerntypen, -fähigkeiten und -tempi der Kinder eingegangen werden als in Jahrgangsklassen. "Schnellerner/innen" können bei den Erfahreneren mitarbeiten, andere Kinder können "Lücken" schließen, indem sie die nicht präsenten Lerninhalte noch einmal mit den Anfänger/innen wiederholen. Leerlauf kann weitgehend vermieden werden. Voraussetzung ist allerdings, dass pädagogische Fachkräfte aus Kindertagesstätte, Schule und pädagogischen Fachdiensten in interdisziplinären Teams zusammenarbeiten. Weiter ist es unverzichtbar, dass die Voraussetzungen für konsequentes Differenzieren bzw. Individualisieren innerhalb der Lerngruppen personell und materiell gegeben sind. Erfahrungen mit und wissenschaftliche Begleitung von jahrgangskombinierten Klassen bis in die Sekundarstufe zeigen: Jahrgangskombinierte Klassen sind Jahrgangsklassen mindestens gleichzustellen, was die gemessenen Leistungen betrifft. Was soziale Kompetenzen betrifft, sind sie überlegen. Das "Gelingen" jahrgangskombinierter Lerngruppen stellt hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen und die von diesen zu gestaltende Lernumgebung. Traditionelles Unterrichten z. B. im Frontalunterricht ist nur noch in wenigen Situationen möglich bzw. sinnvoll. Konsequentes Differenzieren und Individualisieren ist ebenso erforderlich, wie es andererseits notwendig ist, den Kindern Raum für das Zusammenwachsen zu einer Gruppe zu geben. Eine Vielfalt an didaktischen Materialien ist bereit zu stellen. Deshalb gilt für jahrgangskombinierte Klassen verstärkt, was für alle Klassen gilt: Um der Individualität und dem Entwicklungsstand jedes einzelnen Kindes gerecht werden zu können, dürfen die Gruppen nicht zu groß sein. Zumindest während eines erheblichen Teils der Lern- und Arbeitszeit ist eine zweite pädagogische Fachkraft in der Klasse erforderlich. Räume müssen groß genug und entsprechend mit anregenden Materialien ausgestattet sein. Da Lehrerinnen und Lehrer in der Regel für den Umgang mit heterogenen Lerngruppen nicht ausreichend ausgebildet sind, sind entsprechende und umfangreiche Fortbildungen vor der Übernahme jahrgangskombinierter Klassen anzubieten.
Jahrgangskombinierte (Eingangs)Klassen müssen Teil eines reflektierten Konzeptes zur Neugestaltung des Übergangs vom Kindergarten zur Grundschule sein, besser noch eines Gesamtkonzeptes kindlicher Erziehung und Bildung. Ein solches Konzept ist bislang in Bayern nicht erkennbar. Wohl aber erkennen wir ein Sparkonzept. Jahrgangskombinierte Klassen sind laut Vorgaben des Kultusministeriums zur Vermeidung kleiner Jahrgangsklassen zu bilden. Jahrgangskombinierte Klassen eröffnen der Schulverwaltung "die Möglichkeit, die Klassenstärken an einer Schule anzuheben und an einer anderen Schule zu senken", denn große Unterschiede in den Klassenstärken sind "auf Dauer nur schwer begründbar und den Eltern, deren Kinder in großen Klassen unterrichtet werden, kaum vermittelbar" (Zitate aus den "Informationen für Schulräte 2006/II"). Die pädagogischen Gründe für Altersmischung werden als Begründung für Sparmaßnahmen herangezogen, anstatt allgemein die Klassenhöchststärke zu reduzieren und gleichzeitig jahrgangskombinierte Klassen zu fördern. Außerdem liegt weder ein Konzept noch eine konkrete Aussage dazu vor, wie jahrgangskombinierte Klassen z. B. des Schuljahres 2006/2007 im folgenden Schuljahr fortgesetzt werden sollen. Hier geht es nicht mehr um Pädagogik, denn die weitere Organisation "hängt letztlich von den gegebenen Schülerzahlen ab, weshalb derzeit noch keine verbindlichen Aussagen … getroffen werden können" (Quelle s. o.). Die Zuweisung von in der Regel insgesamt fünf zusätzlichen Lehrer/innen- und Förderlehrer/innen- Stunden ist unverbindlich und vage und reicht bei einer Klassenstärke von 20 bis 25 Kindern bei weitem nicht aus, um auf die Persönlichkeit und den Entwicklungsstand aller Kinder einzugehen und eine entsprechende Lernumgebung zu schaffen. Die Aussage, dass für Lehrer/innen, die erstmals in jahrgangskombinierten Klassen arbeiten, "noch vor Unterrichtsbeginn mehrtägige Fortbildungen durchgeführt" (Quelle s. o.) würden, ist ebenso vage und diffus und lässt befürchten, dass auch hier gespart werden soll. Sie ist keinesfalls geeignet, Lehrer/innen zu motivieren und stellt keine Fortbildung in Aussicht, die ausreichend für die Arbeit in jahrgangskombinierten Klassen qualifiziert.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert eine neue Schulstruktur, in der alle Kinder bis zum Abschluss der Schulpflicht gemeinsam lernen und arbeiten. Die Neugestaltung des Übergangs von der Kindertagesstätte in die Grundschule und eine in der Regel zweijährige Schuleingangsphase wie oben beschrieben würde eine selektionsfreie Aufnahme alle Kinder in die Grundschule ermöglichen und wäre daher ein Schritt in die richtige Richtung. Die GEW fordert das KM auf, eine gemeinsame Schule für alle Kinder endlich ernsthaft zu diskutieren! Ein hoher Teil der Ausgaben für schulische Bildung müsste dann nicht länger für die überteuerte Organisation der verschiedenen Schularten und die immensen Schulbuskosten verwendet werden, sondern könnte endlich für zusätzliche, dringend benötigte pädagogische Fachkräfte eingesetzt werden.