Geschichte, Gewerkschaft, Geselligkeit
An der dritten Fahrt nach Wien vom 5. bis 9. November 2018 beteiligten sich wieder 30 Senior*innen auf Einladung des Landesausschusses der Seniorinnen und Senioren, vortrefflich geplant und organisiert vom Vorsitzenden Manfred Doetsch. Auf dem Reiseprogramm standen Referate und Diskussionen bei der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (GÖD) und beim Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB), der Besuch der Dauerausstellung „Rotes Wien“ und des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW) sowie der Albertina, wo aktuell eine eindrucksvolle Retrospektive mit 100 Gemälden von Claude Monet präsentiert wurde. Daneben blieb Zeit für individuelle Erkundungen von Stadt, Märkten, Schlössern, Kirchen und Museen.
Zum Verständnis der gewerkschaftsorganisatorischen Situation in unserem Nachbarland stelle man sich folgendes vor: Die GEW gibt es nicht, für jede Schulart gibt es je eine LehrerInnengewerkschaft (entsprechend unseren Standesverbänden), insgesamt fünf, die mit anderen Branchengewerkschaften unter dem Dach von Ver.di lose verbunden sind – so ähnlich ist die GÖD aufgebaut. Hinzu kommen vier offizielle Fraktionen (Sozialdemokrat*innen, Christdemokrat*innen, Kommunist*innen und Unabhängige). Das erste Treffen führte uns also in das Haus der GÖD, wo uns Reinhart Sellner, als parteiunabhängiger Gewerkschafter, Vorstandsmitglied und Bereichsleiter für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, und sein designierter Nachfolger Gary Fuchsbauer empfingen. Nach einem Überblick über die Schulorganisation und die Kompetenzen der fünf Lehrer*innengewerkschaften in der GÖD nahmen die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen unter „Schwarz-Blau“ breiten Raum ein. Das differenzierte Schulsystem bleibt, der Sparkurs wird fortgesetzt und Reformansätze werden ausgetrocknet. Sellners pessimistisches Fazit: Die fünf Lehrer*innengewerkschaften der GÖD warten ab, begrüßen das Ende der „Reformitis“ und hoffen auf eine weiterhin intakte Gesprächsbasis mit ÖVP-Minister*innen, damit sie Einsparungen abfedern und „Schlimmeres für die Kolleg*innen verhindern“ können. Allerdings werden ÖGB-Aktionen auch von der mehrheitlich schwarzen GÖD als zweitstärkste Gewerkschaft im ÖGB mitgetragen.
Wie etwa die kurzfristig mobilisierte Demonstration der 100.000 des ÖGB gegen den nun zulässigen 12-Stunden-Arbeitstag der neuen Regierung. Hierzu gab es beim ÖGB zum Abschluss eines aufschlussreichen Vormittags ein beeindruckendes Video. Betreut wurden wir von Maria Hajek von der Pensionist*innenabteilung, die auch zusammen mit Martina Lackner das erste Thema über sozialpolitische Veränderungen seit dem Regierungswechsel referierte. Einen Überblick über das österreichische Rentenrecht gab Dinah Djalinous-Glatz, Referatsleiterin für Sozialversicherungspolitik. Hieraus einige Merkposten: Der Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung ist mit 12,55 % höher als der Arbeitnehmerbeitrag (10,25 %); ein Rentenanspruch begründet sich nach 15 Versicherungsjahren; das Regelrentenalter beträgt 65 Jahre (zukünftig auch für Frauen); eine Langzeitversichertenregelung nach 45 Beitragsjahren erlaubt eine vorzeitige Verrentung mit 62 Jahren und Abschlag von 4,2 % pro Jahr; nach 45 Versicherungsjahren beträgt die Rente 80 % des Bruttogehalts; die Rentenhöhe für Neuzugänge 2017 beträgt im Durchschnitt für Männer 1.640 €, für Frauen 1.032 € (zum Vergleich:* in Bayern 2017: Männer 1081 €, Frauen 684 €); die Rente wird 14mal pro Jahr gezahlt. Nach diesen informativen Vorträgen genossen wir die Gastfreundschaft in der vorzüglichen Kantine beim 3-Gänge-Mittagessen.
Der wohl bekannteste und größte Gemeindewohnbau von 398 Wohnanlagen, entstanden in den Jahren 1919 bis 1934 als reformsozialistisches Architekturprojekt sui generis, ist der Karl-Marx-Hof, eine Festung des Fortschritts: Rotbraun und ockergelb leuchten seine Fassaden, die zwei 1.200 Meter langen Trakte, fünf und drei Stockwerke hoch, umschließen abschließbare große, grüne Innenhöfe und beherbergen 1300 Wohnungen mit je 45 Quadratmetern (heutzutage werden zwei Wohnungen zu einer zusammengelegt um modernen Wohnansprüchen zu genügen). Diese hatten kein Bad, aber ein eigenes WC, getrennt von der Küche, und Balkon. (Damals hatten 92 Prozent aller Wiener Wohnungen Gemeinschaftstoiletten). Damit verbunden war eine neue Arbeiterwohnkultur mit Gemeinschaftseinrichtungen (z. B. Waschhaus, Kindergarten, Kinderkrippe, Lesesaal, Versammlungsraum). Die Wohnungen wurden den Mietern fast zum Nulltarif überlassen, sie mussten lediglich drei bis fünf Prozent ihres Einkommens für laufende Kosten und Renovierung aufbringen. Dies ist also das populärste Ergebnis und die größte Leistung des „Roten Wien“, die Zeit der SPÖ-Regierung im Rathaus während der Ersten Republik. Darüber gibt es im Waschsalon Nr. 2 eine Dauerausstellung, durch die uns Julia Schwarz, Studentin unmittelbar vor der Magisterprüfung, engagiert führte.
Nach diesem euphorisierenden Nachmittag über die aufstrebende nachrevolutionäre Arbeiterbewegung ging es anderntags zum dunkelsten Kapitel der Geschichte: Frau Merle Bieber führte uns durch das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Zu verschiedenen Bereichen wie z. B. der „Anschluss“, Judenverfolgung, Widerstand, Zwangsarbeit, Entnazifizierung, Rechtsextremismus (!), gibt es eine Vielzahl von Foto-Text-Tafeln, deren Inhalte dank der Führung gut und zeitsparend dargeboten wurden. Die sichtbare Ausstellung ist aber nur der kleinste Teil des DÖW; es umfasst u. a. eine Präsenzbibliothek mit 44.000 Titeln und ein Archiv mit 350 laufende Meter Akten. Ein Drittel seines Haushalts übernimmt noch die Bundesregierung mit einem FPÖ-Innenminister (!).
Eine Gruppe muss sich erst mal finden. Nach einer Vorstellungsrunde am Ankunftstag bot sich dazu am zweiten langen Abend im „Blauen Esel“, einem typischen Speiselokal, reichlich Gelegenheit. Auf der kleinen Bühne des großen Nebenzimmers bot unser mitfahrender Kollege Stefan Kaindl mit seinen Freunden, dem Weaner Andy und dem extra aus Wasserburg angereisten Dr. Robert Krämer lustig-böse Heurigen- und Schmählieder. Für einen weiteren Abend mit Zithermusik reservierte Toni Plommer Plätze im Gasthaus „Gustl Bauer“.
Bevor sich die Gruppe am Abfahrtstag zerstreute, hielten wir Rückschau. Alles hat wie am Schnürchen geklappt – dank der vorausschauenden, umsichtigen, geduldigen und achtsamen Betreuung durch unseren Reiseleiter Manfred Doetsch.
Lothar Walter, KV Rosenheim