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Emil Julius Gumbel (1891 – 1966): Ein Mathematiker gegen Krieg und politischen Mord

Suchte man unter den Autor*innen der verbrannten Bücher die Person heraus, die beinahe alle Feindbilder der Rechten in sich vereint, die des historischen Nationalsozialismus wie auch wohl die der heutigen „Neuen Rechte“, so stieße man unweigerlich auf den in München geborenen Mathematiker Emil Julius Gumbel.

Ein Feindbild für die Rechten und für uns ein Vorbild, den die Technische Universität München (TUM) erst 2019 mit einer eigenen Ausstellung und Vorträgen als bedeutenden Wissenschaftler und politisch engagierten Menschen vorstellte. Bisher gibt es zwar in der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München „Das Gumbel“, einen „studentischen Lern-, Aufenthalts- und Veranstaltungsraum“, doch die TUM wollte sich Jahrzehnte lang weder an ihre Verantwortung für die Bücherverbrennung 1933 noch an die aus ihren Reihen verbannten Autor*innen erinnern.

Gumbel auf dem Weg zum Feindbild der Rechten

Gumbel, das Kind einer bürgerlichen jüdischen Familie, lebt in einem offenen, aufgeklärten Umfeld. Bildung ist ein wichtiger Teil dieser Welt: Er spricht englisch, französisch, italienisch und bereist schon als Schüler die europäischen Länder. Auch russisch wird er schließlich lernen, um als Mathematiker mehrere Monate in Moskau zu forschen (vgl. „Vom Russland der Gegenwart“ (1927)). Ein bayerischer Kosmopolit also, den die Hitler-Regierung am 23. August 1933 auf die erste Ausbürgerungsliste setzen wird. Damit stellte man ihn in eine Reihe mit dem führenden politischen Personal der Gegner*innen des Hitler-Regimes in der Weimarer Republik, zu dem auch der Kommunist Willi Münzenberg, der Sozialist Rudolf Brettscheid, der Publizist Georg Bernhard und die Schriftsteller Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger zählten. Neun der insgesamt 33 ersten Ausgebürgerten des „Dritten Reiches“ waren Aktivist*innen der „Deutschen Liga für Menschenrechte“. Deren Schriften wurden im Mai 1933 verbrannt, die Autor*innen selbst galten als Vertreter*innen des „undeutschen Geistes“. Friedrich Wilhelm Foerster ist darunter und Ernst Toller, Otto Lehmann-Rußbüldt und Kurt Tucholsky. Gumbel fand sich auch in den antisemitischen Nazipropagandaschriften „Die Juden in Deutschland“ und „Die Juden sehen dich an“ wieder, neben bereits ermordeten Politiker*innen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Gumbels Entwicklung verlief bis 1914 wie die vieler anderer junger Menschen seiner Gesellschaftsschicht. Er machte 1910 am Münchner Willhelmsgymnasium Abitur, studierte an der LMU Mathematik und Nationalökonomie, machte 1913 sein Diplom, arbeitete als Assistent am Seminar für Statistik und Versicherungswissenschaft und wurde noch vor Kriegsausbruch 1914 promoviert, um sich dann freiwillig in den Krieg zu melden. Seine kurzen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg (er wurde 1915 von der Front beurlaubt) veränderten seine politische Haltung: Er wandte sich von nun an gegen den Hass auf die Menschen anderer Länder und gegen den Krieg generell. In seinen Forderungen nach Frieden und Demokratisierung fand er Mitstreiter*innen im „Bund Neues Vaterland“ (BNV), der späteren „Deutschen Liga für Menschenrechte“. 1917 wurde er Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschland (USPD), nach dem Krieg war er Teil der Berliner Novemberrevolution. In öffentlichen Versammlungen vertrat er die Ansicht, die Hauptschuld am Weltkrieg läge beim deutschen Imperialismus und bei den Hohenzollern. Einem Überfall durch die „Garde-Kavallerie-Schützendivision“, zu deren Opfer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zählten, entkam Gumbel, weil er im März 1919 Delegierter der deutschen Friedensbewegung auf einer Völkerbundkonferenz in Bern war. Von da an fand sich Gumbel auf den Todeslisten des rechtsradikalen Terrors. Eine wissenschaftliche Karriere unter den politischen Voraussetzungen der Weimarer Republik erwies sich als schwierig. Gumbels Engagement widersprach der an den Universitäten herrschenden politischen Haltung. Die Universität, aber v.a. die nationalistischen Studierenden bekämpften den außerordentlichen Professor in Heidelberg mit allen Mitteln, um ihn als Hochschullehrer unmöglich zu machen, was 1932 schließlich gelang. Als der Mathematiker in einem Vortrag „Krieg und Arbeiterbewegung“ vorschlug, in Erinnerung an die 700.000 deutschen Hungertoten im „Kohlrübenwinter“ 1917/18, eine Kohlrübe als Denkmal des Krieges zu nehmen, wurde er in einem Disziplinarverfahren von der Universität Heidelberg verwiesen.

Gumbels Engagement im Exil

Auch das Exil änderte Gumbels politische Haltung nicht. In Frankreich, das ihm eine Stelle an der Universität Lyon bot, versuchte er, die Widersprüche der unterschiedlichen Gruppen im Exil in der Volksfrontbewegung zusammenzubringen. In Paris beteiligte er sich an der Gründung der „Deutschen Freiheitsbibliothek“ am ersten Jahrestag der Bücherverbrennung.

Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris 1940 floh Gumbel weiter in die USA. Trotz der schwierigen Arbeitssituation engagierte er sich auch dort weiter in Exilorganisationen. Er entwickelte seine Extremwerttheorie, arbeitete an praktischen Anwendungen für den amerikanischen Staat und wurde schließlich 1952 an die Columbia University in New York berufen. An der Heidelberger Universität beschloss man schon 1945, sich einer möglichen Rückkehr Gumbels in der Nachkriegszeit zu widersetzen. Als Mathematiker und politischer Publizist reiste Gumbel in den folgenden Jahren mehrmals durch Europa, schrieb und sprach gegen die deutsche Wiederbewaffnung und den US-amerikanischen Krieg in Vietnam.

Porträtbild + Fotonachweis: https://ub.hsu-hh.de/wordpress/wp-content/uploads/2019/12/Gumbel.png

Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:

Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord (1922)

In wissenschaftlicher Sachlichkeit und mit der Methode des Statistikers stellt Gumbel in dieser Broschüre die politischen Morde von rechts und links gegenüber. Akribisch versammelt er die Namen von Ermordeten, ihre Anschrift, ihren Beruf, ihre Todesumstände, die Namen der Mörder. Er gibt damit nicht nur den Ermordeten seit der Niederschlagung der Revolution 1919 eine Identität, sondern nennt auch die Mörder öffentlich beim Namen. Dabei zeigt sich die politische Haltung der damaligen Justiz in ihrer Ungleichbehandlung der rechten Morde im Vergleich zu den linken.

Neben den berühmten Mordopfern wie dem Bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner findet man hier auch eine verlässliche Quelle für die Nachforschung nach den Männern und Frauen, die bei der Niederschlagung der Revolution im Münchner Stadtteil Giesing gewaltsam zu Tode gekommen sind. Die von ihm zusammengestellte Liste zählt die 61 Giesinger*innen, die seit 1991 auf der „Giesinger Geschichtssäule“ aufgeführt sind, wobei hier nur die offiziellen Toten erfasst sind. Bei der Darstellung der einzelnen Morde geht Gumbel über die Kämpfe vom 2. Mai 1919 hinaus und zeigt, wie auch in den folgenden Tagen und Wochen in Giesing und im nahen Gefängnis Stadelheim weiter gemordet wurde. Hier findet sich die Darstellung der Ermordung eines Lehrers der Maria-Theresia-Kreisrealschule am Regerplatz ebenso wie auch die Umstände der Ermordung einfacher Giesinger Räterepublikaner*innen. Er stellt sich damit nicht nur klar gegen die Grausamkeit der Konterrevolution, sondern auch gegen die Deutungshoheit der Sieger*innen über diese Ereignisse.

Die „Denkschrift des Reichsjustizministers über ,Vier Jahre politischer Mord‘“ (1924), in der die damalige Regierung die Richtigkeit der von Gumbel erfassten Mordumstände bestätigte, musste der Autor selbst herausgeben. Die darin als ungesühnt festgestellten Morde von rechts wurden aber auch nach dieser Veröffentlichung nicht bestraft. Seine Erkenntnisse zu den undemokratischen, nationalistischen und militaristischen Strukturen der Weimarer Republik führte Gumbel weiter in den Büchern „Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918 – 1924“ (1924), „Verräter verfallen der Feme!“ (1929) und „,Lasst Köpfe rollen!‘ Faschistische Morde 1924 – 1931“ (1931).

Emil Julius Gumbel: Vier Jahre politischer Mord (1922) – Ausschnitt aus dem Originaltext S. 38 und S. 43

 

Literatur:

Christian Jansen: Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten. Heidelberg: Wunderhorn, 1991

Filmtipp:

Statistik des Verbrechens. Ein Mathematiker kämpft gegen die Nazis. junger dokumentarfilm 2019 SWR Auf: https://archive.org/details/Gumbel_Ein-Mathematiker-kaempft-gegen-die-Nazis_junger-dokumentarfilm_SWR_2019