Rezension
Eine Schule für Alle
Eine 100 Jahre alte, doch brandaktuelle Forderung. Eine Rezension von Gele Neubäcker
Das Ergebnis einer „konsequent durchgeführten Schulreform kann nur „Eine Schule für alle“ sein. Jede Schule wird inklusive Schule, jede Klasse wird inklusive Klasse, jedes Kind ist - Kind.“ So oder ähnlich bestätigt die GEW auf ihren Gewerkschaftstagen (hier aus 2017) regelmäßig ihre Vision einer demokratischen Schule, in der alle Schüler*innen die gleichen Chancen auf Bildung und die Entfaltung ihrer Persönlichkeit haben. Richtungsweisend ist ein 2001 in Lübeck beschlossener Antrag „Schulpolitische Positionen“ als Ergebnis eines über zweijährigen, breit angelegten Diskussionsprozesses. Darin bekennt sich die GEW zum langen gemeinsamen Lernen in EINER SCHULE FÜR ALLE und positioniert sich (erneut) gegen Ausgrenzung und Aussonderung. Der GEW-Hauptvorstand beschloss im Juni 2005 im Auftrag des vorausgegangenen Gewerkschaftstags „Eckpunkte und Leitlinien zur Umsetzung der EINEN SCHULE FÜR ALLE“. Auch die bayerische GEW bekennt sich vielfach zum langen gemeinsamen Lernen und fordert z. B 2015: „10 Jahre Besuch gebundener Ganztagsschulen (Eine Schule für Alle), die alle Kinder und Jugendlichen willkommen heißen, die persönliche Lernwege anbieten und die niemanden beschämen.“
Marianne Demmer erforscht die Geschichte der Forderung
„Vor 100 Jahren haben sich fortschrittliche Kräfte in Deutschland auf einen beschwerlichen Weg begeben, der hoffentlich in nicht allzu ferner Zukunft zu einer demokratischen inklusiven Schule für alle führt“ (S. 132) So optimistisch formuliert es Marianne Demmer nach ihrem Rückblick auf 100 Jahre Schulpolitik in Deutschland und listet zwölf „Wegmarken von 100 Jahren Schulreform“ auf, Im Band „1920 - 2020 Schulreform in Deutschland Eine (un)endliche Geschichte?!“, der in der Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ im Mai 2021 erschien, geht Demmer in fünf Kapiteln der Frage nach, weshalb eine grundlegende Schulreform nicht durchgesetzt werden konnte, trotz zahlreicher Initiativen und angesichts der auch politisch nicht ernsthaft infrage gestellten Tatsache, dass Schulen soziale Benachteiligung nicht kompensieren, sondern noch weiter vertiefen.
„Schulkompromisse der Weimarer Republik – mit Ausblicken in die Gegenwart“
Ein Schaubild im ersten Kapitel zeigt, dass um 1910 95 % der Bevölkerung die Volksschule besuchten, aber für die restlichen fünf Prozent eine Vielzahl von (schulgeldpflichtigen) Schultypen von der Einschulung an, vorgehalten wurde. Demmer schildert ausführlich die politischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfe, die schließlich zu Kompromissen in der Weimarer Verfassung und dem Reichsgrundschulgesetz von 1920 führten. So wurde in der Reichsverfassung ein „meritokratisches, auf dem Leistungsgedanken beruhendes Schulsystem geschaffen, das in seinen Grundelementen bis heute Bestand hat.“ (S. 19). Der Zugang zu Bildung sollte vom finanziellen und gesellschaftlichen Status des Elternhauses entkoppelt werden. Lehrer*innenbildung sollte „nach den Grundsätzen, die für höhere Bildung allgemein gelten“ (S. 26), einheitlich geregelt werden und in ein einheitliches Besoldungs- und Dienstrecht münden. Auch eine nach 100 Jahren noch brandaktuelle Forderung!
Das Reichsgrundschulgesetz von 1920 schaffte die Vorschulen (das waren damals 3- bis 4-jährige Vorbereitungsklassen für die höheren Schulen) ab und führte die vierjährige gemeinsame Grundschule für (fast) alle Kinder ein. „Hilfsschulen“ waren damals kein Teil des öffentlichen Schulsystems, sondern wurden kirchlichen und privaten Trägern überlassen.
„Die Reichsschulkonferenz und ihr langer Schatten“
Ausführlich wird im zweiten Kapitel geschildert, unter welchen politischen Umständen diese neuntägige Konferenz mit ca. 650 Teilnehmer*innen im Juni 1920 stattfand, mit welchem Anspruch sie einberufen wurde, und wie folgenlos sie in ihrer Unverbindlichkeit blieb. Dennoch – so belegt Demmer in diesem Kapitel – sind ihre Beratungsgegenstände, die übersichtlich auf einer Seite abgedruckt sind, nach wie vor aktuell. Parallelen zur schulpolitischen Diskussion nach 1945 werden aufgezeigt.
„Einheitsschule und die Dauer des gemeinsamen Lernens“
Das dritte und ausführlichste Kapitel ihrer Schulgeschichte widmet Demmer diesem Aspekt. Wilhelm von Humboldt formulierte bereits vor über 200 Jahren die ideale Vorstellung von Einheitsschule, indem er „dem ständischen Schulwesen die allgemeine Bildung aller Menschen und das Modell einer integrierten und säkularisierten Einheitsschule“ (S. 54) entgegenstellte. Die folgenden unterschiedlichen Vorstellungen der verschiedenen Epochen und politischen Organisationen und Verbänden zum Thema „Einheitsschule“ auf der Reichsschulkonferenz werden differenziert vorgestellt. Das Spektrum reichte von den „Traditionalisten“, die eine höchstens vierjährige Grundschule akzeptieren wollten, über Georg Kerschensteiner und Johannes Tews mit ihren „nationalen Einheitsschulen“ bis zu Fritz Karsen und Paul Östreich und den „entschiedenen Schulreformern“, nach deren Vorstellungen nach neun gemeinsamen Schuljahren „der Eintritt ins praktische Leben mit gleichzeitiger Fachschulausbildung oder in die wissenschaftliche Oberschule“ (S. 64) folgen sollten. Ergebnis dieser Diskussionen auf der Reichsschulkonferenz – so zeigt Demmer auf – war die Forderung nach einer Einheitsschule, unter der alle beteiligten ihre Vorstellungen unterbringen konnten: „Einheitsschule als Leerformel“ (S.64). Anders nach 1945. Je nach politischem Standort wurde, so Demmer, die Einheitsschule für die einen zum Ort pädagogischer Sehnsucht und für die anderen zum Ort größter Verdammnis“ (S. 12). Ausgehend von den vergeblichen Bemühungen der Siegermächte, eine bis zu 12- oder 13-jährige Einheitsschule einzuführen – was der „Allgemeine deutsche Lehrerinnen- und Lehrerverband“ als Vorläufer der GEW unterstützte, und was mit dem damaligen bayerischen Kultusminister Alois Hundhammer an vorderster Front verhindert wurde - über eine Darstellung des DDR-Schulsystems bis zu den schulpolitischen Auseinandersetzungen der 1970-er Jahre schildert Demmer die (fast) vergeblichen Versuche einer grundsätzlichen Schulreform. Ebenso schildert sie jedoch die Erfolge von Gesamtschulen in den letzten Jahrzehnten und das partielle Aufbrechen der überkommenen Schulstrukturen, neue (erfolgreiche) Schulformen wie Gemeinschaftsschule, Sekundarschule u. ä. und den an verschiedenen Stellen bröckelnden Widerstand gegen längeres gemeinsames Lernen in Parteien und Verbänden.
„Begabung und Leistung – Auslese als Organisationsprinzip“
So ist das vierte Kapitel überschrieben. Hier geht es um die Nachverfolgung des Konstrukts „Begabung“ als Mittel der Zuweisung von Kindern auf die verschiedenen Schularten ebenfalls seit der Reichsschulkonferenz, als der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Schicht und Finanzkraft und der Schulart entkoppelt werden sollte. Demmer weist auf, wie bereits damals die drei noch heute herangezogenen „Begabungstypen“ entsprechend dem Bedarf der jungen Industriegesellschaft konstruiert wurden, und wie Auslesekriterien gesucht und zu rechtfertigen versucht wurden, wie dies aber auch immer kritisiert wurde. Erwähnt wird auch die Umorientierung der Schulpolitik infolge des „Sputnik-Schocks“ der 60-er Jahre und die „Demaskierung“ des statischen Begabungsbegriffs durch den Deutschen Bildungsrat 1972. Kritisch wird auch die Schulpolitik der DDR beleuchtet und v. a. die Geschichte der Hilfs- und Sonderschulen. Demmer kommt zu dem Schluss, „dass Kinder mit Lernschwierigkeiten vor Verabschiedung des Reichsgrundschulgesetzes, als Hilfsschulen … noch Teil der Volksschule waren, besser einbezogen waren, als es heute der Fall ist“ (S. 101).
„Chancengleichheit „Aufstieg durch die Bildung“ und die Klassenfrage“
Demmer verfolgt im fünften Kapitel die Forderung nach gleichen Bildungschancen der vergangenen 100 Jahre, wobei sich der Fokus vom „katholischen Mädchen vom Land“ auf Schüler*innen mit Migrationshintergrund und / oder ungünstigen sozialen Verhältnissen, und insbesondere auf (muslimische) Jungen, verlagert hat. Verwiesen wird u. a. sowohl auf den Deutschen Bildungsrat, der 1972 Chancengleichheit als grundlegendes bildungspolitisches Ziel ausrief, als auch auf die Ergebnisse zahlreicher Studien, die die soziale Benachteiligung großer Bevölkerungsgruppen eindrucksvoll belegen. Kritisiert wird die schleichende Aufgabe des gesellschaftspolitischen Konzepts „ Chancengleichheit“ zugunsten des proklamatorischen Begriffs der Chancengerechtigkeit ohne einen Maßstab, mit dem sich „Gerechtigkeit“ messen lassen könnte – wogegen die GEW sich jedoch immer gewehrt hat. Aktuell findet sich „Chancengleichheit“ wieder häufiger in fachlichen Publikationen und sogar politischen Statements, und auch die neue GEW-Vorsitzende Maike Finnern hat ihren „Kommentar“ auf Seite zwei der E & W 07-08/2021 mit „Chancengleichheit für alle!“ überschrieben und den Begriff geradezu wohltuend neunmal verwendet. (Anmerkung G. N.)
„100 Jahre Schulreform in Deutschland – Beobachtungen und Schlussfolgerungen für Eine Schule für alle“
„Es geht voran – aber sehr langsam und mit Rückschlägen“ – unter dieser Überschrift zeigt Demmer in einem letzten Kapitel Entwicklungen in Richtung mehr Chancengleichheit auf und zeigt, dass insbesondere Umbruchsituationen Chancen für Schulreformen bieten, die allerdings, wenn überhaupt, nur in Ansätzen realisiert wurden: der Weimarer Schulkompromiss 1918/19, die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg (nur in der DDR), die sozialliberale Ära von 1968 bis 1973 mit den nach wie vor aktuellen Empfehlungen des „Deutschen Bildungsrats“, das Positionspapier des „Runden Tisches Bildung“ von 1990. Offen ist für Demmer, ob sich in der momentanen Phase der „ gesellschaftlichen Erschütterungen in Folge des Klimawandels, der Fluchtbewegungen, der Digitalisierung und der aktuellen Erfahrungen des Lebens in und mit der Pandemie“ (S. 136) die Erkenntnis durchsetzt, dass die damit zusammenhängenden Herausforderungen nur mit bestens ausgebildeten und solidarischen Menschen bewältigt werden können, oder ob sich eine Haltung der „aggressiven Verteidigung von Privilegien, des irrationalen Denkens und gewalttätigen Handelns aus Unsicherheit, Angst oder Machtgier“ durchsetzt. Unter der letzten Überschrift „Die nächsten Schritte zu Einer Schule für alle“ werden Punkte wie „Lehrer*innenbildung“, „Strukturvarianten in Schulgesetzen“ und das „Zweiwegemodell“ als fragwürdiger Zwischenschritt diskutiert und die Notwendigkeit konsensorientierter Strategien erörtert. Was den „KMK-Bildungsrat“ von 2020 betrifft, ist Demmer skeptisch, ob er „unabhängig genug ist, um … zukunftsfähige Empfehlungen für eine gemeinsame Grundstruktur des Schulwesens vorzuschlagen“ und schlägt ergänzend „Repräsentative (geloste) Bürger*innenversammlungen“ als neue Form demokratischer Willensbildung vor.
Ein lesenswertes Buch!
Die über 150 Seiten enthalten zahlreiche Tabellen, Grafiken und interessante historische Fotos, die strukturieren und veranschaulichen. Zehn Seiten Literaturverzeichnis mit Links motivieren zu weiteren Recherchen. Das Buch ist gut zu lesen, an vielen Stellen geradezu spannend. Wohl kaum finden sich an anderer Stelle so komprimiert Informationen zur deutschen Schul(reform)geschichte der letzten hundert Jahre (ohne die Zeit zwischen 1933 und 1945, in der Schul„reform“ nicht relevant war), und Gründe für deren „Steckenbleiben“ – Autorin und Herausgeber der Schriftenreihe sprechen nicht von „Scheitern“.
Gele Neubäcker