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Die Märchenerzählerin und Autorin Lisa Tetzner (1894 – 1963): Wie könnte eine bessere Welt aussehen?

Die Erstauflage des damals erfolgreichen, aber heute wenig bekannten Kinder- und Jugendbuches „Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise“ Tetzners erschien 1931. Darin zieht der arme neunjährige Hans los, um seiner kranken Mutter Brot zu besorgen. Dabei reist er einmal um die Welt. Die teils märchenhafte, andererseits jedoch auch sehr reale Geschichte wirbt für ein gegenseitiges Einstehen der Menschen, um die Welt besser zu machen.

In 22 Kapiteln, die quasi die Reiseetappen abbilden, trifft der vom ernsten Willen, seiner Mutter zu helfen, beseelte Hans auf ganz unterschiedliche Tiere und Menschen. Zunächst wird die Ausgangslage geschildert: Hans Urian ist der älteste Sohn einer typischen armen Arbeiterfamilie. Alle Familienmitglieder müssen mithelfen, damit ein Auskommen möglich ist. Als der Vater bei der Arbeit im Stahlwerk umkommt, nimmt die Katastrophe ihren Lauf. Die Mutter muss nun allein für die Familie sorgen und die Kinder sind auf sich gestellt. Als die Mutter erkrankt, hungert die Familie. Deshalb zieht der Älteste los und verspricht: „Ich komme nicht ohne Brot zurück.“

Hans wendet sich zunächst an den Bäcker, erreicht jedoch nichts, denn der Bäcker kann ihm kein Brot ohne Bezahlung geben. Auch er müsse seine Familie ganz allein versorgen. Der Bäcker bringt Hans aber auf den Gedanken, es bei einem Bauern zu versuchen. Auf seinem Weg begegnet Hans dem Hasen Trillewipp, der ihn begleiten möchte. Und so beginnt eine wunderbare Freundschaft zwischen Hans und dem Hasen. Trillewipp staunt über Hans‘ Erzählungen von der Gemeinschaft der Menschen, wo einige viel haben und andere hungern. Er erklärt Hans: „Wir Hasen hungern entweder alle oder wir haben alle zu essen.“

Märchen und Realität

Danach zeigen sich zum ersten Mal die märchenhaften Elemente in Lisa Tetzners Geschichte. Hans hat die Gabe, mit den Tieren sprechen zu können. Der Hase kann fliegen und nimmt Hans auf seinem Rücken mit aufs Land zu einem Bauern. Doch auch er kann Hans kein Brot geben, weil er selbst nur sehr knapp über die Runden kommt. Er berichtet Hans, dass viele Bäuerinnen und Bauern nach Amerika auswandern. Dort solle es viel Geld geben und manche von ihnen seien reich zurückgekommen. Darum möchte Hans nun auch nach Amerika. Der Hase Trillewipp fliegt ihn dorthin. Bei einer Zwischenlandung auf einem Passagierdampfer wird ihnen erneut die ungerechte Gesellschaft aufgezeigt: Die Heizer des Dampfschiffes bekommen kaum genug Verpflegung, die Passagiere dagegen schwelgen im Überfluss.

Am Ende ihrer nächsten Etappe erreichen Hans und Trillewipp Grönland. Dort treffen sie auf den Waisenjungen Kagsagsuk, der sie fortan begleitet, weil auch er seinem ärmlichen Dasein unter den „Eskimos“ entkommen will. Die beiden Kinder und der Hase erreichen schließlich Amerika. Dort lernen sie den reichen Jungen Bill kennen. Sein Vater besitzt eine Waffenfabrik und so kennt Bill keine Not. Er bekommt alles, was er sich wünscht. Demgegenüber lernt Hans auch hier, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in Abhängigkeit und Not leben. Auch hier gibt es Brot nur gegen Geld und Geld nur gegen Arbeit.

Nun soll hier nicht die ganze Geschichte verraten werden. Nur noch so viel: Die Reise führt Hans noch nach Afrika, China und schließlich auch nach Russland, bevor er zu seiner Mutter mit Brot zurückkehrt.

Fortan will Hans sich für eine gerechtere und bessere Welt einsetzen. Und er findet zumindest unter den Kindern viele, die seine Geschichten aus der Welt hören wollen. Vielleicht seid auch ihr neugierig auf dieses Buch geworden. In manchen Bibliotheken gibt es davon noch einige Exemplare, einzelne antiquarische Ausgaben gibt es sogar noch zu kaufen. Und auch wenn manche Bilder darin stereotyp sein mögen, so regt die wundersame Geschichte Hans Urians auch heute noch an, gesellschaftliche Strukturen zu überdenken und Kindern Utopien für ein anderes Miteinander vorzustellen.

Lisa Tetzners Buch landete während des Nationalsozialismus auf den Listen der zu verbrennenden Bücher. Ein Werk, das kapitalistische Grundüberzeugungen infrage stellt, das Waffen und Krieg verurteilt, das das sowjetische Russland als lebenswert vorstellt, war gefürchtet.

Bildrechte: Lisa Tetzner und Kurt Kläber 1928 (privat: Christiane Dornheim-Tetzner)

Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:

Eine unbekannte Autorin durchaus bekannter und noch heute verlegter Bücher

Die Autorin Lisa Tetzner begann ihre Berufsbiografie als umherziehende „Märchenerzählerin“, die seit 1920 offiziell als solche im Rhein-Ruhr-Gebiet beim preußischen Kultusministerium angestellt war. Der Verleger Eugen Diederichs förderte sie früh und veröffentlichte ihre Bücher mit Märchen aus aller Welt in seinem Verlag. Bis in unsere jüngste Zeit wurden ihre Märchenanthologien verlegt und verkauft.

Ab 1927 wirkte sie für den Berliner Rundfunk als Leiterin des Kinder- und Jugendfunks und erarbeitete u. a. mit Kindern innovative Hörspiele fürs Radio. Parallel zu dieser neuen Tätigkeit begann sie ab 1928 mit dem Schreiben von Kinderbüchern. Zunächst erschien das Theaterstück „Hans Urian geht nach Brot. Eine Kindermärchenkomödie von heute“, das sie zusammen mit Béla Balázs erarbeitet hatte. Daraus erwuchs 1931 ihr erstes oben vorgestelltes Kinderbuch, illustriert mit Zeichnungen von Bruno Fuck. Schon bald erschien es auch in den USA, in Palästina und in Polen. Mit „Hans Urian“ begann eine Entwicklung in Lisa Tetzners Schaffen: Fortan wandte sie sich aktuellen zeithistorischen Themen zu. Von 1933 bis 1949 verfasste sie das Kinder- und Jugendbuch „Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67. Odyssee einer Jugend“ in neun Bänden, die bis heute verlegt werden. Jedes dieser Bände kreist um eine Gruppe von Kindern aus einer Berliner Mietskaserne in den Jahren 1931 bis 1946. Aus Kinderperspektive wird die Zeit des Nationalsozialismus dargestellt. Sie gelten heute als wichtigste deutschsprachige Kinderliteratur des Exils, in dem auch Lisa Tetzner war.

Die „Kinder aus Nr. 67“ hatten es verlegerisch nicht leicht. Immer wieder gab es Bedenken gegen eine Veröffentlichung, sei es in der Schweiz wegen der Kritik an Hitler-Deutschland oder in der frühen Bundesrepublik wegen des Themas Nationalsozialismus. Doch letztlich konnte sich das Werk auch wegen seiner überragenden Erzählkunst und der einmaligen Zeitperspektive auf den Nationalsozialismus durchsetzen. 1979 wurden die beiden ersten Bände unter dem Titel „Die Kinder aus Nr. 67 oder Heil Hitler, ich hätt' gern 'n paar Pferdeäppel“ verfilmt. Heute werden vor allem die beiden ersten Bände in der Schule gelesen. Es gibt zahlreiche Unterrichtshilfen dazu.

Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sich Lisa Tetzner sehr für die fantastische Kinderliteratur, so z. B. für Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf". Außerdem übersetzte sie C. S. Lewis ersten Band der „Chroniken von Narnia" ins Deutsche.

Seit 1924 war Lisa Tetzner mit dem Autor Kurt Kläber, eher bekannt unter seinem Pseudonym Kurt Held („Die rote Zora und ihre Bande“), verheiratet. Als aktiver und bekannter Kommunist wurde Kurt Kläber noch in der Nacht des Reichstagsbrandes im Februar 1933 verhaftet. Lisa Tetzner konnte zwar seine Freilassung erwirken, doch ein gemeinsames Leben in Deutschland war danach unmöglich. Das Paar emigrierte deshalb in die Schweiz in ihr Feriendomizil in Carona. Es kehrte nie mehr nach Deutschland zurück. Lisa Tetzner starb 1963 in Carona.

Lisa Tetzner/Bruno Fuck (Ill.): Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise. Zürich und Wien: Büchergilde Gutenberg, 1948 Ausschnitt aus dem Originaltext.

Literatur:

Gisela Bolius: Lisa Tetzner. Leben und Werk. Frankfurt a. Main: Dipa-Verlag, 1997