Der Sexualpädagoge Max Hodann (1894 – 1946): Vom Weiterleben eines Berliner Arztes in Peter Weiss‘ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“
Während viele der Autor*innen unserer Freiheitsbibliothek längst vergessen sind, wurde aus dem einst berühmten Sexualaufklärer Max Hodann, dessen „Bub und Mädl. Gespräche unter Kameraden über die Geschlechterfrage“ (1926) hohe Auflagen erzielte, eine Hauptfigur in Peter Weiss‘ Roman „Die Ästhetik des Widerstands“. Der umstrittene Arzt aus Berlin ist Teil der großen Erzählung über die Möglichkeiten und Widersprüche des realen Widerstands gegen den Faschismus in Deutschland, im Exil und im Kampf für den Sieg der spanischen Republik.
Weiss stellt Hodann auf die Seite der Internationalen Brigaden im Kampf gegen Franco. Er charakterisiert ihn, verortet im Spanischen Bürgerkrieg, als einen Akteur, der im Berlin der Weimarer Republik seine Existenz verloren hat:
„Hodann, ehemals Stadtarzt und Leiter des Gesundheitsamts in Berlin Reinickendorf, Mitglied der Ärztekammer und des sozialhygienischen Beirats im Magistrat, Angehöriger des Sozialistischen Ärzteverbands, seit dem Juli dieses Jahrs Chef des Rekonvaleszenzheims Cueva la Potita, das dem Bataillon Thälmann unterstellt war, hatte Deutschland am zehnten Mai Dreiunddreißig verlassen, an dem Tag, als auf dem Platz zwischen der Hedwigskirche und dem Denkmal Friedrichs des Zweiten, des Freundes Voltaires, des Flötenspielers und Soldatenschinders, zum ersten Mal die Bücher ketzerischer Autoren auf dem nationalsozialistischen Scheiterhaufen brannten. Neben Hirschfeld, Forel, Havelock Ellis, Kollontai, einer der Gründer der Weltliga für wissenschaftliche Sexualreform, seit Ende der Zwanzigerjahre, Anfang der Dreißigerjahre berühmt, umstritten und verleumdet wegen seiner freimütigen Aufklärung auf dem Sexualgebiet, der Kommunistischen Partei nahstehend, in Artikeln und Büchern die Sowjetunion, die er einige Male besucht hatte, als vorbildlich schildernd, war er nach dem Reichstagsbrand verhaftet und ins Moabiter Gefängnis gebracht worden. Nach einem Monat wurde er vom Hof, in dem er, zwischen Ossietzky und Mühsam, seine tägliche Runde ging, zum Kommandanten gerufen, der ihm einen Zettel aushändigte, auf dem er gute Behandlung zu bestätigen hatte.“
Das Ende der Aufklärung in der „Schutzhaft“ des Moabiter Gefängnisses
Der Sexualaufklärer Max Hodann, von seinen politischen Gegner*innen als „Hodenmaxe“ diffamiert, wird im Roman Teil eines plausiblen Zusammenhangs zwischen seiner Berliner Vergangenheit und seiner Gegenwart im antifaschistischen Widerstand außerhalb Deutschlands. Hodann hatte im Berlin der Weimarer Republik als Sozialist die Möglichkeit, in einer staatlichen Stellung zu arbeiten, sich gleichzeitig vielfach politisch zu organisieren und an Magnus Hirschfelds privatem „Institut für Sexualwissenschaft“ seine Form der Sexualaufklärung für Jugendliche und Ehepaare zu praktizieren. Die Erwähnung der „Sozialhygiene“ deutet Hodanns eugenische Ansichten an, die er nicht nur mit anderen Sozialist*innen teilte und die hier nicht weiter ausgeführt werden. Weiss lässt Hodann selbst seine Vergangenheit und Gegenwart erzählen, wobei der sich nicht an historische Daten halten will. Nur so werden die politischen Umstände seines Lebens in eine sinnvolle Chronologie gebracht und damit für ihn erträglicher. Der Exilant aus Nazideutschland verknüpft Reichstagsbrand, Bücherverbrennung und die gemeinsame Schutzhaft prominenter Antifaschisten mit seiner Person. Die für eine Diktatur charakteristische Wirklichkeit, die sich oft in Zufällen und willkürlichen Entscheidungen zeigt, wäre ansonsten unerträglich, der tägliche Kampf dagegen sinnlos.
Seine Tätigkeit als Sexualaufklärer, seine Internationalität, sein Eintreten für die Sowjetunion und den Kommunismus machen Hodann zum Gegner der Diktatur. Wenn er in Schutzhaft „zwischen Ossietzky und Mühsam“ steht, wird klar, welches Schicksal ihm in der Haft hätte drohen können. Der Publizist Carl von Ossietzky starb an den Folgen von Folter und Konzentrationslager, der Revolutionär Erich Mühsam wurde im Konzentrationslager Oranienburg ermordet. Ihre Bücher, Broschüren und Zeitschriften wurden an zentralen Orten der (von der Republik überwundenen) Monarchie verbrannt. In Berlin war es der Opernplatz gegenüber der Universität unter den Blicken Friedrichs des Zweiten, einer Figur zwischen europäischer Aufklärung und preußischem Militarismus.
Nicht nur der „undeutsche Geist“ sollte vernichtet werden
Weiss ordnet Hodann damit nicht nur den deutschen Antifaschist*innen zu, die nach 1933 um ihr Leben fürchten mussten, sondern zeigt gleichzeitig auch auf das Weltbild, das die Studierenden in ihrer „Aktion gegen den undeutschen Geist“ und mit der Bücherverbrennung 1933 proklamierten. Er lässt ihn alle Merkmale des in der Bücherverbrennung verfemten „Geistes“ zeigen und versetzt ihn in die universitären Zusammenhänge, deren Akteur*innen im Mai 1933 nicht nur organisatorisch für die Bücherverbrennung verantwortlich waren, sondern auch die Absicht verfolgten, den „undeutschen Geist“ von den Universitäten und Schulen zu vertreiben. Dafür bedrohten sie die von ihnen ausgewählten Autor*innen mit dem Verlust ihrer Stellen, mit der Verhaftung und schließlich mit dem Tode. Auch Hodanns Freilassung aus der Haft und die gelungene Flucht in die Schweiz dürfen im Roman – anders als in Wirklichkeit – nicht grundlos, zusammenhanglos oder willkürlich geschehen.
„Überzeugt, daß er wegen Fluchtversuchs erschossen werden sollte, ließ er sich, nach der Ankündigung seiner Freilassung, zum Tor leiten, von wo aus er jedoch unbehindert auf die Straße gelangte. (…) Da tauchte im Gebäude der Staatspolizei am Alexanderplatz, in dem er sich zu melden hatte, unter den ausgebreiteten Schwingen des Adlers, ein Offizier der Schutzstaffel mit schwarzer Brille auf, dessen Stimme er wiedererkannte. Als medizinischer Sachverständiger beim Gericht hatte er einmal für den damals Arbeitslosen auf die Anklage von Notzucht Freispruch erwirkt, was jetzt zu der Gegenleistung führte, daß er, eingeschleust in die Gruppe eines Männergesangsvereins, bei Schaffhausen die Grenze zur Schweiz überschreiten durfte.“
Weiss bemerkt im Roman zu Hodanns Erzählung dieser wundersamen Rettung: „Bei Berichten solcher Art hatte Hodann die spöttisch verschmitzte Art eines Märchenerzählers. Er konnte Ereignisse, bei denen es um Leben oder Tod ging, zu einer Humoreske ausschmücken.“
Es ist also Hodann selbst, der in dieser Erzählung seine Tätigkeit als Sexualwissenschaftler, wegen der er selbst auch vor Gericht gestanden hatte (vgl. „Unzucht! Unzucht! Herr Staatanwalt!!“ 1928), mit einem von ihm bewirkten Freispruch eines späteren SS-Offiziers und schließlich mit seiner eigenen Freilassung 1933 verknüpft.
Hodanns Verteidigung seiner Sexualpädagogik in der Realität des Spanischen Bürgerkriegs
Während er in seiner Erzählung ironischerweise von einem politischen Gegner gerettet wird, dem er zuvor durch seine sexualwissenschaftliche Expertise zur Freiheit verholfen hatte, wird er in Freiheit nun paradoxerweise von seinen Genoss*innen eben wegen seiner Haltung angegriffen.
Der Militärarzt Hodann muss schließlich während des Spanischen Bürgerkriegs vor einer „Kommission“ von Genoss*innen seine psychotherapeutische Arbeit im Hospital im spanischen Cueva verteidigen, als er an schwerem Asthma erkrankt um eine Versetzung an die spanische Küste bittet. Die Diskussion darüber, wie Hodann sich um die psychischen Nöte seiner Patient*innen kümmere, mündet in einen Angriff auf seine Vorschläge zur Behebung der sexuellen Not der republikanischen (männlichen) Soldaten. Wie in seinen Büchern, Broschüren und in seiner täglichen Beratung während seiner Zeit in Berlin doziert Hodann mitten im Spanischen Bürgerkrieg ohne Rücksicht auf die Realität des brutalen Kriegsalltags, dem seine Gesprächspartner*innen an der Front ausgesetzt sind:
„Die kameradschaftliche Zusammenführung von Mann und Frau im Befreiungskampf stelle erst den Beginn dar für eine Befreiung vom Kult der weiblichen Reinheit. Und was die Onanie betreffe, so müsse diese während des Kriegs und bei unserer Ablehnung der Prostitution als ein natürliches prophylaktisches Mittel angesehen werden.“
Weiss‘ Romanfigur Hodann besteht also auch in der Extremsituation des Krieges darauf, den Menschen als Ganzes zu sehen, die psychologische Realität der Soldat*innen nicht außer Acht zu lassen. Und er besteht auch auf seiner in Berlin entwickelten Therapiepraxis des Einzel- und Gruppengesprächs. In seinen Büchern finden sich meist (reale?) Beratungsgespräche, die nun in ihrer Literarisierung weiter aufklärend wirken sollen.
Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:
Max Hodann (Hg.): Unzucht! Unzucht! Herr Staatsanwalt! Zur Naturgeschichte des deutschen Schamgefühls (1928)
Was von Max Hodann bleibt, sind freilich nicht so sehr die Details seiner Sexualpädagogik, für die es für uns heute andere Anlaufstellen gibt. Schließlich leben wir in unserer Sexualität nicht mehr in Hodanns Zeit. Er wird also in anderen Zusammenhängen überleben, wie es der Bezug auf Peter Weiss‘ Roman zeigt: Eine Republik wie die Weimarer oder auch unsere gegenwärtige lässt Aufklärer*innen Raum, aber ebenso auch Gegner*innen. Die Weimarer Verfassung, die Meinungsfreiheit in „Wort, Schrift, Druck, Bild“ gewährte, verhinderte keine Gesetze des Strafgesetzbuchs, die die Arbeit von Autor*innen und Künstler*innen als „Unzucht“, „Schund und Schmutz“ oder „Gotteslästerung“ bezeichnete und diese vor Gericht bringen und verbieten konnte. Hodann war mit der Beschlagnahme seiner Bücher „Geschlecht und Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Beziehung“ (1927) und „Bringt uns wirklich der Klapperstorch?“ (1928) davon betroffen wie auch der Autor Johannes R. Becher, der Künstler George Grosz und der Verleger Wieland Herzfelde und viele mehr. Aber erst die verwirklichte Diktatur konnte den ganzen Hodann verbieten, ihm Doktortitel und Staatsbürgerschaft aberkennen und ihm als einzige Rettung das Exil lassen, nachdem er Haft und Ermordung entkommen war.
„Aufruf!“ der „Aktionsgemeinschaft zu Wahrung der Freiheit in Kunst und Schrifttum“ / Max Hodann: „Die wahre Grundlage der ,moralischen Entrüstung‘ deutscher Behörden“
Aus: Max Hodann (Hg.): Unzucht! Unzucht! Herr Staatsanwalt! Zur Naturgeschichte des deutschen Schamgefühls. Rudolstadt: Greifenverlag, 1928 – Ausschnitt aus dem Originaltext und Ausschnitt Nummer 2
Literatur:
Peter Weiß: Die Ästhetik des Widerstands. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1975-81/Neuauflage 2016