Der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern Kurt Eisner (1867 – 1919): Die Vernichtung eines toten Revolutionärs
An Kurt Eisner, dessen Revolution wir in Bayern nach dem Untergang der Monarchie 1918 nicht nur den „Freistaat“, also die Demokratie, sondern auch das Frauenwahlrecht, die weltliche Schule und viele andere republikanische Errungenschaften verdanken, wird meist von seinem Ende, von seiner Ermordung im Februar 1919, her gedacht. In München, wo er die für die Revolution wichtigen Bevölkerungsgruppen zu einer beispiellosen Einigkeit führte, gründete er eine provisorische Regierung, die zusammen mit einem Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat Ministerien führte. Er selbst sollte so lange als vorläufiger Ministerpräsident regieren, bis ein demokratisch gewählter Landtag die Macht übernehmen könnte. Eisners Regierung existierte vom 8. November 1918 bis 21. Februar 1919. An diesem Tag, an dem er nach verlorener Wahl im Januar mit seinem Rücktrittsschreiben in der Tasche auf dem Weg in den Landtag war, wurde er von dem Studenten Anton Graf von Arco auf Valley erschossen.
An diesem Tag beginnt auch Eisners Weiterleben als getöteter Revolutionär. Es ist insbesondere dem späteren Fotografen Hitlers Heinrich Hoffmann zu verdanken, dass das kollektive Bildgedächtnis uns nicht die Taten dieses Mannes vor Augen führt, sondern seinen Tod. Hoffmann fertigte zwar von den bekannteren Revolutionären in München Portraits an, die sich massenhaft in Form schnell hergestellter Postkartenabzüge verbreiteten. Doch Eisner zeigte er weder als Redner oder Politiker noch als Privatmensch. Ab Februar 1919 vertrieb der Hoffmanns Verlag, in dem auch die Fotografin Germaine Krull Fotos von Kurt Eisner veröffentlichte, seine Porträtaufnahmen mit dem Vermerk „ermordet am 21.II.19“. Anfang 1919 fotografierte Hoffmann Eisner auf dem Weg in den Landtag in der Prannerstraße, wo er wenig später sterben sollte. Auf diesem Bild sehen wir den Ministerpräsidenten ohne großen persönlichen Schutz zwischen seiner Frau Else Belli und dem Minister für soziale Fürsorge Hans Unterleiter. Hinter den dreien gehen ein Soldat und drei weitere zivile Männer, von denen einer wohl Eisners Sekretär Felix Fechenbach ist. Seltsamerweise erinnert man sich an die Menschen auf diesem Bild sogleich auf ihr jeweiliges Ende hin, statt sich klarzumachen, was es uns eigentlich zeigt: Die Außergewöhnlichkeit, dass ein Berliner Journalist als bayerisches Staatsoberhaupt ohne großen Schutz auskommen will und in einem beratenden Gespräch mit einer selbstbewussten Frau und einem ausgebildeten Schlosser aus Freising als Minister vertieft ist. Diese Menschen schufen als Politiker*innen einen Staat, in dem es künftig keine sozialen Unterschiede mehr geben sollte.
Die „weiße“ Konterrevolution rief zu Eisners Ermordung auf
Die Aufhebung gesellschaftlicher Unterschiede zugunsten demokratischer Gleichheit als geeintes „Volk“, eines „Volksstaats“, ein weiterer Begriff für Demokratie, passte nicht in das Weltbild der politischen Gegner*innen. Sie glaubten, Eisners politische Ziele in seiner Person bekämpfen zu müssen. Der Mörder des ersten Ministerpräsidenten begründete seinen Mord vor Gericht so: „Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter.“ Georg Neidhardt, der Richter des von der Eisner-Regierung geschaffenen „Volksgerichts“, hatte volles Verständnis für dessen Tat und führte in der Urteilsbegründung an, dass „die Handlungsweise des politisch unmündigen Mannes nicht niedriger Gesinnung, sondern der glühenden Liebe zu seinem Volke und Vaterlande“ entsprungen sei. Eisners politische Gegner*innen definierten ihn demnach als zurecht Getöteten und nicht als politisch handelnden Menschen. Heinrich Hoffman arbeitete sofort an der Ikonografie dieser Perspektive. Seine Postkarten verbreiteten, scheinbar als Trauerarbeit der Revolution, die Botschaft von Eisners Tod: Wir sehen die Stelle in der Promenadenstraße, an der Eisner erschossen wurde, mit Schaulustigen und einer Ehrenwache revolutionärer Soldaten mit Trauerkränzen. Auf den Bildern lesen Passant*innen die plakatierte Nachricht von Eisners Tod. Hoffmann dokumentierte auch Eisners Begräbnis auf dem Giesinger Ostfriedhof am 26. Februar 1919. Mit seinen Fotos zeigt er, wie die von der Revolution befreiten russischen Kriegsgefangenen ein großes Eisner-Porträt vor sich hertragen und der „Kommunist“ Gustav Landauer in Giesing in einer Equipage des abgesetzten bayerischen Königs vorfährt. Später wird dieser den Namen eines Trauerredners verwechseln: Aus Fritz Schröder machte er den berühmteren Ernst Niekisch. Hoffmann wollte an diesem Begräbnis verdienen, offenbarte hier aber auch schon seine spätere politische Überzeugung hinsichtlich des Nationalsozialismus. Den Gründer des „Freistaats Bayern“ Kurt Eisner stilisierte er zum „ermordeten Ministerpräsidenten“. Von seinem Mörder hingegen veröffentlichte er das (Postkarten-)Bild eines stolzen unbesiegten Offiziers des Weltkriegs.
Überschreibung und Vergessen von Eisners politischen Errungenschaften
Eisners Taten, die Ausrufung des „Freistaats“ als „demokratische und soziale Republik Bayern“, die Einigkeit unter den Arbeiter*innen, Soldaten, Bäuerinnen und Bauern, die erstmalige Beteiligung der Frauen am politischen Leben sowie das Ende der Monarchie und des Krieges in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918, sollten überschrieben werden. Historisch folgte der deutsche Faschismus, der sich „Nationalsozialismus“ nennt. Es kommt zum Hitlerputsch gegen die Weimarer Republik 1923, eine „Aktion“, an die während der Diktatur jährlich in dieser Novembernacht gedacht wird. Auch die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung 1938 finden an diesem Datum statt.
Schließlich ergibt sich aus dieser Gedächtnispraxis der Demokratiefeind*innen gewollt oder ungewollt nicht viel Neues für das heutige München. Eisner ehrt ein wiederaufgebautes Denkmal der Revolution im Ostfriedhof, in dem vor 1933 seine Urne begraben lag. Eine Straße weit außerhalb der Innenstadt wurde nach ihm benannt. Ein Denkmal am Ort seiner Ermordung zeigt die Umrisse des am Boden liegenden Toten auf dem Gehweg und ein weiteres Denkmal am Oberanger trägt die Inschrift: „Jedes Menschenleben soll heilig sein“ aus dem Aufruf „An die Bevölkerung Münchens!“ vom 8. November 1918. Es dokumentiert den pazifistischen Revolutionär, der Gewalt selbst gegen Gegner*innen ablehnte. Ein angedeuteter Kugeldurchschuss am gläsernen Denkmal deutet auf die Folgen dieses „naiven“ Denkens hin. Der jährlich vom Kurt-Eisner-Verein und dem Verein „Das andere Bayern“ unternommene Versuch, einen zentralen Münchner Platz, den Marienhof hinter dem Rathaus, in Erinnerung an Eisner umzubenennen, scheitert bisher am Unwillen der Stadtregierung. Der eigentliche Erbe Eisners, die Bayerische Staatsregierung, verweigerte dem Gründer des Freistaats die Erinnerung, indem der amtierende Ministerpräsident Söder bei den Feierlichkeiten zu „100 Jahre Freistaat Bayern“ Eisners Namen nicht einmal erwähnt. Damit drückte dieser gleichzeitig aus: Der Freistaat gehört der CSU. Und Eisner war für Bayern keine tragende politische Figur. Vielmehr bleibt er, der zum ersten Mal in Bayern demokratisches Denken, Reden und Handeln verwirklichte, in der Zeit der Verluste demokratischer Rechte besser unerwähnt.
Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:
Kurt Eisner: Die neue Zeit (1919)
„Kurt Eisner: alles“ steht auf der Schwarzen Liste für die Bücherverbrennung. Eisners Werke und seine politischen Taten waren 1933 offenbar doch noch so lebendig, dass man ihn mit diesem Vermerk auf der Schwarzen Liste noch einmal als Teil des „undeutschen Geistes“ vernichten wollte. War er als Feindbild zu gebrauchen oder als Vertreter der Novemberrevolution, als Hassobjekt der rechten Bayer*innen, welche auch die Bücher des ebenso ermordeten Landauer verbrannten und die Erich Mühsam im Konzentrationslager Sachsenhausen folterten und ermordeten? Der kommunistische, letzte Anführer der Bayerischen Revolution Eugen Leviné fehlte auf der Schwarzen Liste, an Eisner, Landauer, Mühsam und Toller sollte dagegen erinnert werden, um sie zu zerstören, um sie aus den Köpfen, aus den Bücherregalen, aus den Universitäten, Schulen und Verlagen herauszuholen, wo sie 1933 offenbar noch waren. Holen wir Eisner also zurück und lesen wir, was er schrieb und was er 1918 sagte.
Rede vor dem Münchner Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat am 28. November 1918. In: Kurt Eisner: Die neue Zeit. München: Georg Müller Verlag, 1919 – Ausschnitt aus dem Originaltext