Der Austromarxist Max Adler (1873 – 1937): Neugestalter des Marxismus und „Lehrer des Proletariats“
Im „Café Central“ in Wien saßen sie am Ende des 19. Jahrhunderts gern zusammen: Der 1873 geborene und 1896 frisch promovierte Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding und andere Austromarxist*innen, jene neue, aus der Wiener Sozialistischen Studentenverbindung hervorgegangene Gruppe von Sozialist*innen – philosophische wie Adler, ökonomische wie Hilferding, juristische wie Renner. Sie trafen sich, um die ältere Generation der Marxist*innen gewissermaßen abzulösen. Nicht durch Umsturz und Revolution soll das geschehen, sondern vor allem durch Erziehung und eine neue Pädagogik.
Marx neu denken – und ihn nicht allein lassen
Max Adler dürfte selbst viel geredet haben im „Café Central“ und man hat ihm sicher genau zugehört, denn er soll ein hervorragender Redner gewesen sein. In seinen Reden und Publikationen ging es ihm immer wieder darum, den ökonomisch-materialistischen Ansatz des Marxismus weiterzuentwickeln, indem der Mensch und die Gesellschaft, in der dieser lebt, als gestalterische Bedingungen hinzukommen sollten. Auf diese Weise brachte Adler Marx und Kant zusammen: Aus dem kritischen Ansatz Kants wollte Adler eine Melange mit dem metaphysischen Materialismus des Marxismus entstehen lassen, die eine moderne kritische Soziologie begründen würde, welche es mit den Naturwissenschaften aufnehmen können sollte. Die gerade in der Synthese eines „marxifizierten Kantianismus“ begründete Fortschrittlichkeit der Austromarxist*innen wurde allerdings von etlichen Zeitgenoss*innen verkannt und gar belächelt – aber auch verteidigt, wie etwa von Oskar Blum, der 1919 schrieb:
„Teils sind A.s Ansichten als beiläufige Äußerungen irgendeines beiläufigen ‚Marx-Ergänzers‘ hingenommen, teils als durchaus harmlose Versuche betrachtet worden, denen keine besondere Bedeutung zukomme. Diesem Verhalten mangelte es m.E. an historischer Perspektive. Mir will es im Gegenteil scheinen, daß die literarische Wirksamkeit A.s den Schlüssel zu einer ganzen Periode der sozialistischen Entwicklung bietet.“
Weil diese Wirkungskraft durch die Listen für die Bücherverbrennungen der Nationalsozialist*innen und nicht durch Diskurs an ihrer möglichen Entfaltung gehindert wurden und der Austromarxismus erst viel später in den Siebzigern – zögerlich und letztlich unwirksam und etwas ratlos – wiederentdeckt wurde, stellt ihn die Münchner Freiheitsbibliothek in der Person Max Adlers hier vor.
„Das Ich ist immer und von vornherein in Vergesellschaftung und, sobald dies erkannt und zur bewussten Zwecksetzung gemacht wird, auch in Gemeinschaft.“ (Max Adler)
Diese Gemeinschaft – so die Austromarxist*innen – dürfe sich mit der „politischen Demokratie als Herrschaftsorganisation der bürgerlichen Klasse“ nicht zufriedengeben. Vielmehr könne die Gesellschaft nur innerhalb einer sozialen Demokratie existieren, in der die Klassengegensätze mit ihren Unterdrückungsmechanismen zugunsten einer solidarischen Selbstverwaltung unter den Grundsätzen einer sozialistischen Lebenshaltung aufgehoben würden. Damit waren Adler und seine Mitdenker*innen viel eher Sozialdemokrat*innen als Kommunist*innen. Den Wandel auf demokratischem Weg herbeiführen war das Ziel – wenngleich Gewalt nicht ausgeschlossen wurde, um die in der Zukunft errungenen Erfolge vor Angriffen durch die politische Rechte zu schützen. Gewalt war aber nicht der Weg der Austromarxist*innen. Dieser Weg zu einer solidarischen Gesellschaft, der Weg zum Ausgleich zwischen dem Individuum und der „a-priori-Gesellschaft“ musste doch auch anders beschritten werden können!
Die Erziehung zum „Neuen Menschen“ an der Schönbrunner Erzieherschule
Um die Mehrheit des Volkes für die Solidarität und den Sozialismus zu gewinnen, strebten die Austromarxist*innen einen gesellschaftlichen Zustand an, den sie mit dem heute etwas fragwürdig anmutenden Begriff der kulturellen Hegemonie umschrieben. Damit war der geistige Kampf um die Menschen, vor allem natürlich um die Arbeiter*innen, für den Sozialismus gemeint, der unweigerlich praktische Tatkraft verlangte. Im Schloss Schönbrunn ermöglichte der Wiener Bürgermeister im Jahr 1919 nach der Ausrufung der Republik die Unterbringung des sozialdemokratischen Vereins der Kinderfreunde. An dessen Schönbrunner Erzieherschule konnte Max Adler zusammen mit etlichen Kolleg*innen ein reformpädagogisches Konzept für die Ausbildung junger Pädagog*innen verwirklichen. Die Bewegung der Arbeiter*innen war aufgerufen, einen „Neuen Menschen“ zu erziehen, und Adler verstand sich als „Lehrer des Proletariats“.
Von 1919 bis 1921 gehörte Max Adler dem niederösterreichischen Landtag an, 1920 wurde er Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Wien. Schon 1926 deutete sich der Weg des Marxismus und die weitere Zukunft Österreichs an, als einige seiner antisemitisch-nationalkonservativen Kollegen verhinderten, dass er den Lehrstuhl übernehmen konnte. Den Anschluss Österreichs musste er nicht mehr miterleben, er starb am 28. Juni 1937.
Literatur: Oskar Blum: Max Adlers Neugestaltung des Marxismus. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 8. 1919, S. 177-247. Alfred Pfabigan: Max Adler. Eine politische Biographie. Campus, Frankfurt am Main u. a. 1982.
Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:
Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung 1924
Für Adler ist eine unpolitische, neutrale Erziehung nicht denkbar, weil Erziehung nach seiner Auffassung auf eine Gesellschaft vorbereitet, in der der Klassenkampf als „das bisherige notwendige Mittel aller gesellschaftlichen Entwicklung“ zentral bestimmend ist. Folglich bereitet Erziehung für Max Adler „notwendigerweise“ auf den Klassenkampf vor. An die Befähigung derjenigen, die zur Freiheit erziehen sollen, legt Max Adler strenge Qualitätsmaßstäbe an. Für ihn beginnt die Pädagogik unmittelbar bei der Ausbildung der Pädagog*innen: „Erziehung ist ein Beruf, und noch dazu einer der schwierigsten“, schreibt Adler. Und auch die Ziele derer, die diesen Beruf ausüben, finden Leser*innen von heute nicht ausschließlich marxistisch-revolutionär, wenn es etwa in „Neue Menschen“ heißt:
„In den Kindern soll sich nicht das Alte, das Hergebrachte wiederholen, sondern das Neue, noch nicht Dagewesene erzeugen: nur so kommt die Welt weiter.“
Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung 1924 – Ausschnitt aus dem Originaltext