Im bayerischen Kabinett macht seit geraumer Zeit ein Zauberwort die Runde: „Paradigmenwechsel“! Ministerpräsident Seehofer und Umweltminister Söder wollen einen radikalen Wechsel in der Energiepolitik vollziehen, der Atompolitik abschwören und auf alternative Energiequellen umschalten. Die Sozialministerin Haderthauer versteht die BRK als Auftrag zu einem Paradigmenwechsel „von der Fürsorge zur Assistenz“. In diesem ministeriellen Paradigmen-Wettbewerb möchte Kultusminister Spaenle nicht zurückstehen. Er kommentierte als amtierender Vorsitzender der Kultusministerkonferenz die Beratungen seiner Amtskollegen in Bremen 2010 euphorisch mit der Prognose eines tiefgreifenden „Paradigmenwechsels“. Diese Ankündigung eines umwälzenden Wandels im Schulsystem durch einen bayerischen Kultusminister macht skeptisch und neugierig zugleich, ist doch Bayern bis auf den heutigen Tag das Bollwerk eines „begabungsgerechten, gegliederten Schulsystems“ schlechthin. Sollte etwa in der Schulpolitik des Freistaates ein Paradigmenwechsel, d.h. ein Systemwechsel anstehen?
Dem vorliegenden Entwurf eines neuen Schulgesetzes eilt der Ruf einer historischen Großtat voraus. Die Gesetzesvorlage wurde nämlich von einer interfraktionellen Arbeitsgruppe des Landtages erarbeitet und liegt nun dem Landtag als parteiübergreifender Kompromiss zur Beschlussfassung vor. Man kann wohl mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass weder die Verbändeanhörung am 19. Mai noch die abschließende parlamentarische Beratung im Juni daran mehr als ein Jota ändern werden. Der Entwurf ist mehr oder minder beschlossene Sache. Jeder Änderungsantrag dürfte postwendend bei den anderen Parteien Missstimmung und Gegenwehr auslösen, und damit den viel gerühmten Allparteienkompromiss gefährden.
Ein Allparteiengesetz ist ein Novum in der bayerischen Parlamentsgeschichte. Ein parteiübergreifender Schulkonsens wäre durchaus reformförderlich, weil dadurch die geplante Schulreform gleichsam von einem gesamtgesellschaftlichen Willen der Zivilgesellschaft getragen würde. Sicherlich ein hohes Gut und eine gute Startbedingung. Aber - ist eine interfraktionelle Übereinkunft auch schon ein Garant für ein qualitativ hochwertiges Produkt? Ist „interfraktionell“ ein Synonym für optimale Qualität?
So groß, wie die Wendevokabel „Paradigmenwechsel“ es verheißt, so übergroß ist auch die Enttäuschung. Der bayerische Landtag kommt der Verpflichtung der Behindertenrechtskonvention zum Aufbau eines „inklusiven Bildungssystems“ in keiner Weise nach. Bayern will eigentlich nicht wirklich ein inklusives Bildungssystem, sondern eher das genaue Gegenteil. Das „begabungsgerechte, gegliederte Schulsystem“ wird durch den Gesetzesentwurf mit Zähnen und Klauen verteidigt. Dem real existierenden gegliederten Schulwesen werden lediglich einige „inklusive“ Elemente wie Einzelintegration, Partnerklassen, Kooperationsklassen oder Schulen mit einem inklusiven Schulprofil additiv hinzugefügt, im Übrigen bleibt aber alles beim Alten. Gymnasium, Realschule, Hauptschule und Sonderschule erhalten samt und sonders eine Bestandsgarantie und werden in ihrer Existenz nicht angetastet. Die Gliederungen des Schulwesens stehen unter Artenschutz, darin werden ein paar inklusive Enklaven eingebaut. Es handelt sich also nicht um einen paradigmatischen Umbau des Schulsystems, sondern das gegliederte Schulwesen Bayerns bekommt einen kleinen Anbau namens „Inklusion“. Den bekannten und tradierten Schulhäusern Bayerns wird Inklusion als additiver Annex hinzugefügt. Ein inklusives Schulsystem bedeutet nach bayerischer Lesart nichts weiter als ein gegliedertes Schulsystem plus ein bisschen Inklusion; man könnte auch sagen: Separation plus Inklusion als ornamentale Verzierung. Am Paradigma der Gliederung wird aber nicht gerüttelt – das verhüte Gott, oder genauer: der Bayerische Landtag.
Bayern hat mit dem neuen Schulgesetzentwurf die Notbremse gezogen. Es geht darum, das gegliederte Schulsystem um jeden Preis vor einem Systemwandel durch Inklusion zu retten. Die diversen Notbremsen lassen sich genau identifizieren:
Notbremse 1: Das Institut für Menschenrechte in Berlin und prominente Völkerrechtler leiten aus der BRK ein individuell einklagbares Recht auf inklusive Bildung ab. Bayern bestreitet dieses Recht auf inklusive Bildung für alle Kinder nicht ausdrücklich, sondern hüllt sich vielsagend in Schweigen. Bayerische Kinder, die das Menschenrecht auf inklusive Bildung ggf. gerichtlich einfordern wollen, werden sich nicht auf das erwartbare bayerische Schulgesetz berufen können. Inklusion ist in Bayern nicht ein Menschenrecht, sondern in letzter Konsequenz ein Gnadenakt.
Notbremse 2: Zu den größten Verheißungen des Gesetzentwurfes gehörte der neue Artikel 2 des BayEUG: „Inklusiver Unterricht ist Aufgabe aller Schulen.“ Dieser inklusive Auftrag wird allerdings im neuen Paragraphen 30a wieder vollständig einkassiert: „Schulartspezifische Regelungen für die Aufnahme, das Vorrücken, den Schulwechsel und die Durchführung von Prüfungen an weiterführenden Schulen bleiben unberührt“. Und im Kommentar wird unmissverständlich klargestellt: „Bestehende schulartspezifische Voraussetzungen für den Zugang und den Verbleib an weiterführenden Schulen … gelten daher auch für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf“. Man traut seinen Augen nicht. Das bedeutet im Klartext: Das Gymnasium können nur gymnasialtaugliche Schüler, die Realschule nur realschulfähige Schüler besuchen. Die Reviere der höheren Schulen bleiben durch rigide Übertrittsnormen umzäunte und hoheitlich abgeriegelte Sperrgebiete. Ein unkontrollierter „Wildwechsel“ zwischen den Gliederungen des Schulsystems soll und darf nicht stattfinden. Das Oberhaus des bayerischen Schulsystems ist damit vor dem Ansturm untauglicher, behinderter Schüler gerettet. Gymnasium und Realschule bleiben – abgesehen von einigen intelligenten sinnes- und körperbehinderten Schülern – behindertenfrei. Der Zugang zu den höheren Schulen wird durch die Formel „schulartspezifische Voraussetzungen“ endgültig verriegelt. Die Schotten sind dicht, geistig- oder lernbehinderte Schüler etwa dürfen diese Reservate nicht betreten. Sie werden sich weiterhin die geläufige Selektionsformel anhören müssen: „Du gehörst nicht in diese Schule!“ Die Aufgabe der Inklusion wird damit in der Sekundarstufe allein die dahinsiechende Hauptschule zu schultern haben. Die Hauptschule wird zu einem Sammelbecken für all jene, die für höhere Bildung als untauglich gelten: Migranten, Benachteiligte, Behinderte. Die Zuwanderung behinderter Schüler wird allerdings das qualvolle Absterben der Hauptschule nicht aufhalten, sondern im Gegenteil noch beschleunigen: Wer will schon in ein Ghetto für Abgeschriebene und Zurückgebliebene?
Notbremse 3: Eine weitere, äußerst wirksame Notbremse ist der sog. Haushaltsvorbehalt. Inklusion ist künftig für bayerische Schulen eine völlig freiwillige Angelegenheit, niemand muss dem Inklusionsbegehren von Eltern stattgeben. Sollten Schulen sich aus freien Stücken bereitfinden, inklusive Angebote zu machen, liegen die Kosten für die Schulaufwandsträger als nächste Hürde auf dem steinigen Weg zur Inklusion. Unter gröblicher Missachtung des Konnexitätsprinzips wälzt der Landtag alle Folgekosten auf die Kommunen ab. Wenn die Kommunen nach eigener Einschätzung nicht genügend Geld haben, sind sie auch nicht verpflichtet, die notwendigen angemessenen Vorkehrungen zu treffen und zu finanzieren. Angesichts der notorischen Finanznöte der Kommunen werden also widerstrebende Schulaufwandsträger wohl als letzten Ausweg zum Ressourcenvorbehalt Zuflucht suchen.
Das Bundesverfassungsgericht hatte in einem Grundsatzurteil den sog. Ressourcenvorbehalt als verfassungsgemäß anerkannt. Im Lichte der BRK ist dieses Urteil aus dem Jahre 1997 allerdings revisionsbedürftig. Man stelle sich etwa folgende Situation vor: Schüler eines Gymnasiums haben einen Rechtsanspruch auf Englisch-Unterricht; dieser wird ihnen aber verwehrt mit dem Hinweis, dass zurzeit leider kein Geld für Englischlehrer vorhanden sei. Undenkbar! Was bei Regelschülern nicht vorstellbar ist, kann im Falle behinderter Schüler bei Verweigerung einer inklusiven Unterrichtung ungestraft als Ausrede ins Spiel gebracht werden. Die offensichtliche Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes ist eine empörende Diskriminierung von Schülern mit Behinderungen. Das Menschenrecht auf inklusive Bildung kann grundsätzlich nicht unter Ressourcenvorbehalt gestellt werden.
Notbremse 4: Die Aufnahme behinderter Schüler in die Regelschule veranlasst den bayerischen Gesetzgeber anscheinend zu albtraumartigen Befürchtungen. Inklusion kann mit Gefährdungen des Kindeswohls verbunden sein! Behinderte Schüler mit einem hohen Aggressionspotential etwa könnten das Wohl nichtbehinderter Kinder beeinträchtigen. Derartige „Katastrophen“ können gewiss nicht gänzlich ausgeschlossen werden, aber es dürfte sich um äußerst seltene Fälle sehr weit unterhalb der Promille-Grenze handeln. Der Gesetzesentwurf reagiert auf Gefährdungen des Kindeswohls ausschließlich mit einer Aussonderung des behinderten Kindes, eine notwendige und mögliche Anpassung der personellen Ressourcen, wie es Inklusion eigentlich erfordert, wird nicht ansatzweise erwogen. Es entsteht der Eindruck, als müssten die „normalen“ Schüler vor den behinderten Schülern in Sicherheit gebracht werden.
Auch bayerische Abgeordnete haben im Bundestag und Bundesrat ohne Gegenstimme für die Behindertenrechtskonvention (BRK) und damit für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems, wie es der § 24 der BRK fordert, gestimmt. Im vorliegenden Gesetzesentwurf kommt Bayern dieser selbst auferlegten Verpflichtung allenfalls in zarten und zaghaften Ansätzen nach. Über die nächsten Schritte einer progressiven Entwicklung in Richtung eines inklusiven Schulsystems verliert die interfraktionelle Gesetzesvorlage kein Wort. Des Pudels Kern des Gesetzes ist nicht Inklusion, sondern Separation; nicht inklusive Systementwicklung, sondern Konservierung, Bestandssicherung und Schutz des gegliederten Schulsystems. Die Gliederung wird als sakrosankt fest geschrieben und kanonisiert, die Inklusion muss sich mit der Rolle eines „Beistellkindes“ an der Tafel des gegliederten Schulwesens zufrieden geben. Es handelt sich eben nicht um ein Inklusionsgesetz, sondern um ein Schulstruktursicherungsgesetz. Ein bisschen „Auch“-Inklusion wird zum Feigenblatt des gegliederten Schulwesens.
Das bayerische Parlament wird sich in den kommenden Tagen ob des überparteilichen Inklusionsgesetzes immer wieder öffentlich seiner historischen Großtat rühmen. Und Kultusminister Spaenle kann sich fortan allezeit hinter einem Allparteiengesetz verstecken und sich in Unschuld die Hände waschen. In der jetzigen Form löst der interfraktionelle Gesetzentwurf Bayern nicht das im Bundestag und Bundesrat gegebene Versprechen ein, sondern kommt eher einem kollektiven Meineid nahe. Der neue Paragraph 30b „Die inklusive Schule ist ein Ziel der Schulentwicklung aller Schulen“ ist hohl, phrasenhaft, ja unglaubwürdig. Der heimliche Sieger des bayerischen Schulgesetzes ist das Paradigma des begabungsgerechten, gegliederten Schulwesens, das erfolgreich einen grundlegenden Wandel zu einer gemeinsamen Schule für alle abgewehrt hat.
Prof. Dr. Hans Wocken, Frühlingstr. 13, 90522 Oberasbach – hans-wocken@t-online.de