Die Bundesregierung will ab September 2007 das elternunabhängige BAföG einschränken. SchülerInnen, die das Abitur an der BOS machen wollen, sollen nur noch dann elternunabhängig gefördert werden, wenn sie nach ihrer Berufsausbildung drei bzw. ein Jahr lang (Letzteres deutet sich als aktueller Kompromiss an.) gearbeitet haben. Zwischen 40 und 60 Prozent der SchülerInnen an den BOSen erfüllen dieses Kriterium nicht. Ihre Chance, das Abitur über den zweiten Bildungsweg zur erlangen, sinken damit rapide. Und das Feigenblatt der "Durchlässigkeit" des bayerischen Schulsystems verdorrt. Am 12. Februar demonstrierten deshalb gemäß einem Aufruf der "Aktionsgruppe Bafög der Berufsoberschulen Bayerns" ca. 2500 Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Lehrkräften gegen dieses Vorhaben. Wir dokumentieren die Rede unseres Kollegen Hardo Kroll, Schulleiter der BOS Sozialwesen in München.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Sie gehören nicht zu den jungen Menschen, die den einfachen Weg über Grundschule und Gymnasium zu den Hochschulen gegangen sind. Aus vielfältigen Gründen sind Sie einen anderen Weg gegangen, der häufig auch verschlungen, vielleicht auch von Misserfolgen begleitet war, aber einen Weg, der Ihnen über die berufliche Ausbildung auch ganz andere Fähigkeiten und Kenntnisse vermittelt hat, als sie die Begeher des einfachen Weges vorweisen können.
Sie sind eine Minderheit in unserem Bildungssystem. Und das hat historische Gründe:
Gegen die so genannte Bildungskatastrophe der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts stand der programmatische Satz Ralf Dahrendorfs "Bildung ist Bürgerrecht".
Der Zugang zu Bildung ist das Recht eines Jeden - und der Staat muss diesen Auftrag ernst nehmen, er muss für die Zugangsmöglichkeiten zu Bildung sorgen.
Diese Erkenntnis führte damals zur Umgestaltung der Bildungslandschaft. Und für den Erhalt zweier wichtiger Faktoren dieser Umgestaltung demonstrieren wir heute:
- Das BAföG wurde damals geschaffen, um das es heute geht,
- und in Bayern wurden Fach- und Berufsoberschulen als ganz neue Schularten entwickelt, die einen breiteren Zugang zu Hochschulen versprachen, und um die BOS geht es heute.
In den 90er Jahren ist noch eine gravierende Veränderung hinzugekommen: Von der Hauptschule zur Hochschule hieß die programmatische Schlagzeile der Reform, die an der BOS einen Durchstieg für Absolventen der Hauptschule mit Berufsausbildung zu einem Hochschulzugang ermöglichen sollte.
Das war ein Signal!
Und Sie haben es gehört. Es war ein Signal für leistungsbereite und motivierte SchülerInnen, die erst zögerlich, dann immer zahlreicher an die Vorklassen der Berufsoberschulen gekommen sind.
Und unsere Lehrkräfte haben Sie mit Herz und Verstand versucht zu fördern und zu fordern, damit sie diesen gewünschten Schulabschluss erreichen.
Wir haben gerade an der Schule, von der ich komme, viele Beispiele erfolgreicher Abschlüsse, eine Erfolgsquote von mehr als 60 % ehemaliger HauptschülerInnen, die nun zur Hochschule
gehen können.
Die Berufsoberschulen sind zu einem stetig wachsenden Erfolgsmodell geworden - aus kleinen Anfängen und wenigen Standorten ist nun ein breites Netz mit inzwischen 11.000 SchülerInnen in Bayern entstanden.
Von diesem Erfolg zeugen die Berichte unserer Ehemaligen, die das Studium durchgestanden haben, die im Studium oft sogar sehr erfolgreich waren. Aber auch von Fachhochschulen und Fachbereichen der Münchner Universitäten hören wir immer wieder erfreuliche Nachrichten über BOS-AbsolventInnen, die dort sehr geschätzt werden, weil sie wissen, was sie wollen, weil sie eher gewohnt sind durchzuhalten, weil sie im besten Sinn studierfähig sind.
Was macht eigentlich diesen Erfolg der BOS aus?
Kern des BOS-Gedankens ist, den Beruf ernst zu nehmen. Auf dem erworbenen Wissen, den erworbenen Fähigkeiten baut die BOS mit ihren unterschiedlichen Profilen auf. Und soweit die Berufsausbildung im Schulalltag auch weg zu sein scheint, es findet in den Profilfächern immer wieder eine Anknüpfung an die Praxis statt. Erarbeitetes Wissen, erworbene Fähigkeiten sind nicht nutzlos.
Auf dieser Basis kommen zu uns in der Regel hochmotivierte und leistungsbereite junge Menschen, die den mühsamen Weg einer Weiterqualifizierung wagen.
Sie kommen, und die Gesellschaft braucht sie, alleine schon, um nach PISA die Abiturientenquote nicht irgendwie, sondern nach einem gelungenen Konzept zu steigern.
Diese jungen Menschen haben Mut, sie treffen ihre Entscheidungen für die Schulausbildung, sie sind selbstständig.
Und ein wichtiger Baustein in dieser Planung der eigenen Zukunft ist das BAföG. Ein Baustein, der nötig ist, um einen Teil der Finanzierung abzusichern, die Sie auch zum Schulleben brauchen, ohne auf die Eltern zurückzugreifen.
Und nun kommt mit der BAföG-Novelle 2007 ein ganz anderes Signal.
Dieses Signal heißt: "Halt!"
Denn es erzwingt erst einmal die Absprache mit den Eltern, ob sie bereit und in der Lage sind, ihr Kind zu unterstützen, ob sie bereit und in der Lage sind, ihr Einkommen gegenüber Staat und Kindern offenzulegen - und das heißt insgesamt, ob sie die Entscheidung ihres Kindes tolerieren oder ablehnen. Und nicht wenige unserer Schülerinnen und Schüler berichten, wie distanziert ihre Eltern den Fortbildungswünschen ihrer Kinder gegenüberstehen.
Dieses Signal heißt auch "Halt!" für diejenigen, die gleich nach der Ausbildung rasch an Fachabitur oder Abitur kommen wollen. Sie müssen, wenn die Eltern nicht mitspielen, erst einmal ein bis drei Jahre irgendwie berufstätig zubringen, um eine familienunabhängige Förderung zu erreichen. Beklagt die Politik nicht stets das zu hohe Alter unserer HochschulabsolventInnen?
Und dieses Signal heißt auch "Halt!" für diejenigen, die über Hauptschule und Berufsfachschule diesen Weg der Weiterbildung gehen wollen. Diese Berufsfachschulen bilden für Berufe aus, die selbst in der Boomregion München für viele nur in die Arbeitslosigkeit führen. Die Alternative hieße: Jobben oder Arbeitslosigkeit. Kann das eine vernünftige Perspektive für junge Menschen sein, die sich qualifizieren wollen und die ohnehin schon in den Vorklassen nur familienabhängiges BAföG bekommen haben?
Gerade diese jungen Frauen und Männer, die eher aus bildungsfernen Schichten kommen, brauchen das Signal "Kommt! Wir helfen Euch finanziell, auch ohne Eure Eltern, Euer Ziel zu erreichen."
Liebe Schülerinnen und Schüler, Sie sind eine Minderheit, die durch die Neuregelung schlechter gestellt wird. Und Sie werden schlechter gestellt zugunsten einer anderen Minderheit, etwa den alleinerziehenden Müttern, die nach der BAföG-Novelle besser gestellt werden sollen.
Aber für uns kann es nicht heißen: Minderheit gegen Minderheit.
Wir lassen uns nicht auf das Spiel ein, anderen Minderheiten etwas zu bestreiten, das wir - das sie brauchen. Bildung ist wesentlicher Bestandteil Ihrer und unser aller Zukunft. Und es ist beschämend, diesen Satz in Politikerreden immer wieder zu hören und in der Praxis zu sehen, was sie wirklich tun.
Die Einsparungen beim familienunabhängigen BAföG für BOS-SchülerInnen werden nur wenige Millionen Euro betragen. Sie treffen aber die Berufsoberschulen Bayerns in ihrer Existenz.
Beim Durchlesen der Reden und Protokolle des Bildungsausschusses im Deutschen Bundestag hatte ich den Eindruck, dass die meisten Abgeordneten gar nicht wissen, dass sie mit ihren Entscheidungen den bayerischen BOSen die Grundlage ent-
ziehen.
Deshalb geht es darum, den Politikerinnen und Politikern das Problem bewusst zu machen und darum zu werben, mehr Geld für Bildung bereitzustellen und damit in die Zukunft zu investieren.
Das, liebe Schülerinnen und Schüler, können nur Sie leisten.
Sie sind - zum Glück - auch eine lautstarke Minderheit. Das sehen wir heute!
Treten Sie ein für Ihre Schule, und für die SchülerInnen, die nach Ihnen kommen wollen!
Treten Sie ein für Ihr Bürgerrecht auf Bildung!
Machen Sie aufmerksam auf die faktisch drohende Sperrung des Bildungszugangs für junge Frauen und Männer!
Starten Sie eine Informationskampagne an die örtliche Presse und die Sender, an Ihre örtlichen Abgeordneten des Bundestages in Berlin und an alle Abgeordneten des Bildungsausschusses dort. Wenn Sie denen deutlich machen - in Tausend und Tausend Briefen und E-mails - was für Sie die BOS bedeutet und welche Wichtigkeit für Sie familienunabhängiges BAFöG hat, wenn Sie Ihr legitimes Recht auf Widerstand gegen scheinbar schon beschlossene Gesetzesnovellen jetzt überall hörbar aktivieren, dann haben Sie eine Chance.
Diese Chance wünsche ich Ihnen und uns allen, die mit der bayerischen BOS verbunden sind.