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Anna Siemsen (1882 - 1951): Eine Vordenkerin nicht nur im Schulwesen

Die sozialistische Literaturwissenschaftlerin, Lehrerin, Professorin und Schulpolitikerin Anna Siemsen postulierte einen umfassenden und modernen Erziehungsbegriff. Entsprechend war sie in der politischen Bildung, der Schul-, Berufs-, der Erwachsenen- sowie der Frauenbildung tätig. Sie forderte eine breite und gleichberechtigte Frauenausbildung, die selbst in sozialistischen Kreisen noch umstritten war.

Anna Siemsens Leben mag uns auch heute noch verwundern ob der vielen Wendungen und der Vielfältigkeit ihres Engagements oder auch wegen ihres beharrlichen Eintretens für ihre Überzeugungen. Als zweitältestes von fünf Kindern wurde sie am 18. Januar 1882 im westfälischen Mark in eine Pfarrersfamilie geboren. Sie war ein wissbegieriges Mädchen, durchlief verschiedene Schulen und legte schließlich das externe Abitur in Hameln ab. Danach begann sie das Studium der Germanistik, Philosophie und Altphilologie in München, Münster und Bonn. Das Frauenstudium war erst seit Kurzem möglich und sie war damit eine der ersten Studentinnen in den Hörsälen. Können wir uns heute noch vorstellen, was das bedeutete? Viele Professoren waren darauf nicht eingestellt und wollten auch keine Frauen unter ihren Hörern. Aber Anna Siemsen verfolgte ihren Weg zielstrebig.

In Bonn wurde sie 1909 promoviert und legte 1910 das Staatsexamen für das Höhere Lehramt ab, ebenfalls erst seit Kurzem für Frauen ermöglicht. Sie arbeitete dann in verschiedenen Städten als Oberlehrerin (in etwa die heutige Studienrätin). Bis hierhin war es der Weg einer Tochter aus bürgerlichem Haus.

Noch während des Ersten Weltkrieges wurde sie politisch aktiv: Sie trat, so wie Paul Oestreich, der späteren „Deutschen Liga für Menschenrechte“ bei und wurde überzeugte Pazifistin und Sozialistin. Mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder August Siemsen trat sie 1917 in die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) ein.

„Ich erhebe Anklage, Selbstanklage als Frau gegen uns Frauen. Wir stehen da mitten in Haß, in Kampf, in der Selbstzerfleischung unseres Volkes und tun nichts, um diesen Brudermord zu hindern. [...] Und während dessen sammeln sich im ganzen deutschen Lande Freikorps und Grenzschutztruppen, werden unsere Söhne von den Schulen und Universitäten weg zum Bürgerkrieg gepreßt, erfüllt sich das Land mehr und mehr mit dem Kampf der weißen gegen die roten Garden. Alle bösen Geister des Krieges und der Gewalt sind wieder losgelassen. [...] Wir haben jetzt alle Rechte der Männer und wir haben die größere Zahl. Alles, was wir ernstlich wollen, dazu können wir die Parteien, die Parlamente, die Regierungen zwingen.“ (An die Frauen. In: Das Forum. Jg. 3, H. 10, Juli 1919, S. 820).

Nicht zuletzt wegen solcher Äußerungen wuchs der Widerstand aus konservativen Kreisen.  Dieser richtete sich in vielfacher Hinsicht gegen sie: als Pädagogin, als Sozialistin, als Pazifistin und als Frau.

Streiterin für ein neues Schulwesen und für die Frauenbildung

Nach dem Ersten Weltkrieg widmete sich Anna Siemsen dem Aufbau eines neuen Schulwesens: Sie sprach sich für eine gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen aus, plädierte für eine weltliche Einheitsschule mit Einbezug der Berufsbildung und zielte insgesamt auf die Demokratisierung des Schulwesens und des Unterrichts. Dabei weitete sich ihr Blick immer auf die Veränderung der ganzen Gesellschaft.

„Erziehung ist die gesellschaftliche Tätigkeit, durch welche der einzelne in die Gesellschaft eingegliedert wird“ und „Ein Erziehungsideal ist niemals vom Kinde her, sondern immer durch irgendeine Idee bestimmt, die gesellschaftlich begründet ist, und zwar ist es nicht die Idee einer Gesellschaft in abstracto, sondern einer ganz bestimmten Gesellschaft, die das Erziehungsziel bestimmt, und in deren Richtung das Kind ‚erzogen´, das heißt mit mehr oder minder sanfter Gewalt gezwungen wird“ (Beruf und Erziehung. 1926).

Im Oktober 1923 wurde sie nach Jena gerufen und erhielt dort eine Stelle als Oberschulrätin für das mittlere Schulwesen und wurde Leiterin des Jenaer Lyzeums. Zusätzlich erhielt sie eine Honorarprofessur für Pädagogik an der Universität Jena. Doch als sich im Herbst 1924 die politischen Verhältnisse in Thüringen änderten, wurde sie umgehend beurlaubt. Lediglich ihre Lehrtätigkeit an der Universität durfte sie fortsetzen. Allerdings sind nur wenige Vorlesungen von ihr bezeugt. Demgegenüber entwickelt sie eine rege Referentinnentätigkeit, vor allem in Bildungseinrichtungen der Arbeiter*innen, in der sozialistischen Jugendbildung und in der Frauenbildung.

Mutiges Einstehen für sozialistische Überzeugungen

Im Mai 1928 wurde sie als SPD-Abgeordnete bis 1930 in den Reichstag gewählt. Nach ihrem Ausscheiden verteidigte sie in der Broschüre „Parteidisziplin und sozialistische Überzeugung“ das Vorgehen einiger sozialdemokratischer Parteikollegen, die nach ihren Werten und Überzeugungen und gegen den Fraktionszwang im Reichstag gegen den Wehretat abstimmten. Damit bereitete sie den Boden für eine linke Abspaltung der SPD, die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP).

Die Lehrberechtigung an der Universität Jena wurde ihr 1932 aus politischen Gründen entzogen, auch deshalb, weil sie sich 1932 an einem von 42 deutschen Professoren unterzeichneten Protest gegen die Amtsenthebung von Professor Emil Gumbel (1891 - 1966) beteiligte. Der Mathematiker Gumbel hatte statistische Auflistungen über Justizurteile gegen linke und rechte Gewalt in der Weimarer Republik erstellt und konnte so das „blinde rechte Auge“ der Justiz aufzeigen. In diesem Protest war Anna Siemsen die einzige Dozentin der Universität Jena, weil in Thüringen schon eine nationalsozialistische Landesregierung wirkte.

Schon im März 1933 sah sie sich gezwungen, in die Schweiz zu emigrieren, wo sie ein Grundstück am Genfer See besaß. Durch eine Scheinehe geschützt, konnte sie weiter politisch arbeiten, vor allem in der antifaschistischen Bewegung und an bildungspolitischen Vorbereitungen für die Nachkriegszeit in Deutschland. Sie übernahm 1938 die Redaktion der sozialdemokratischen Frauenzeitung „Die Frau in Leben und Arbeit“. In der Schweiz vollendete sie schließlich ihr Hauptwerk „Die gesellschaftlichen Grundlagen der Erziehung“, das 1948 in Hamburg publiziert wurde.

Im Dezember 1946 kehrte sie, inzwischen 64 Jahre alt, nach Deutschland zurück und war kurzzeitig in Hamburg in der Lehrer*innenausbildung tätig. Sie arbeitete für die „Friedensgesellschaft“ und in der deutschen Sektion der „Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten von Europa“. In ihren letzten Lebensjahren widmete sie sich der Idee eines einheitlichen, föderalistischen Europas unter sozialistischer Perspektive.

Ihre Wiedereinsetzung in das Beamtenverhältnis erreichte Anna Siemsen nicht mehr und teilte damit das Schicksal vieler im Faschismus verdrängter Wissenschaftler*innen. Nach der Remigration konnten diese ihre vormaligen Stellungen nicht mehr erreichen, auch wegen ihrer politischen Haltungen. Anna Siemsen konnte lediglich eine kleine Pension erkämpfen.

Breites publizistisches Wirken

Parallel zu ihren verschiedenen Tätigkeiten verfasste sie im Laufe ihres Lebens über 800 politische, pädagogische, aber auch literarische Artikel und Aufsätze sowie viele selbstständige Publikationen. Eine Auflistung ihrer Schriften findet sich bei Alexandra Bauer; vgl. „Literaturtipps“ am Ende des Artikels.

Ihr ganzes Leben trat Anna Siemsen für eine demokratische, sozialistische und pazifistische Erziehung ein und hoffte, dass dieses Eintreten in die Zukunft wirke. Ihre Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Nach dem Krieg wurden sie meist nicht neu aufgelegt und auch heute werden sie nur noch selten gelesen. Anna Siemsen starb am 22. Januar 1951 in Hamburg.

(Literatur: Alexandra Bauer: Das Leben der Sozialistin Anna Siemsen und ihr pädagogisch-politisches Wirken. Eine historisch-systematische Studie zur Erziehungswissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012.
Manuela Jungbluth: Anna Siemsen – eine demokratisch-sozialistische Reformpädagogin. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012.)

Aus der Münchner Freiheitsbibliothek:

Anna Siemsen: Buch der Mädel

Dieses Buch richtet sich an Mädchen und junge Frauen mit dem Wunsch, ihren Blick zu weiten. „Und vieles von unserem eigenen Leben können wir auch heute nur verstehen, wenn wir ein wenig wissen von dem Leben der Frauen auf Erden und wie, wunderlich genug, ihr Schicksal und ihre Arbeit sich verwandelt hat. [...] Dies Buch [...] erzählt Märchen der Wirklichkeit, [...] vom Aufstieg und der Befreiung der Frau [...].“ (S. 5) Und später heißt es: „Und diese große Freiheitsbewegung ist stärker und stärker geworden. Ihr Ziel ist noch nicht erreicht. Viele Frauen sind dafür ins Gefängnis oder in den Tod gegangen. Sie haben uns allen die Aufgabe hinterlassen, die von ihnen begonnene Arbeit, jeder an seinem Teil und mit seinen Kräften zu Ende zu führen.“ (S. 71)

In einer losen Kapitelsammlung fügt Siemsen Texte zusammen über Frauen in verschiedenen Erdteilen, Frauenarbeit, Frauenleben in der Vergangenheit, Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten und Frauenkampf, denen sie jeweils einen eigenen kurzen Einleitungsgedanken voranstellt. Dabei reichen die zusammengestellten Texte von Homer über ein Grimm´sches Märchen zu Bettina von Arnim und zu einem Brief Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis, mit dem das Buch endet. Die Illustrationen zeigen Frauen und Kinder aus aller Welt.

Anna Siemsen: Buch der Mädel. Mit 16 Bildern auf Kunstdruck-Papier und 11 Textabbildungen. Urania-Verlags-Gesellschaft Jena 1927 – Ausschnitt aus dem Originaltext

 

Anna Siemsen: Daheim in Europa. Unliterarische Streifzüge

In ihrem kleinen Reisebuch „Daheim in Europa“ formuliert Anna Siemsen Betrachtungen zu verschiedenen Landschaften Europas. Sie ruft zu einem wachen, kindlich neugierigen Blick für „die Welt voll von seltsamen und wunderbaren Dingen“ auf (S. 9). Obwohl Reisen oft ein Privileg der Reichen sei, sieht sie viel proletarische Hilfsbereitschaft in der Welt, sodass auch arme Reisende Unterstützung fänden, indem ihnen z.B. Quartier angeboten wird. „Denn wie sollten wir wohl zu einem umfassenden, einem internationalen proletarischen Bewußtsein kommen ohne das Reisen und seine Erfahrungen?“ (S. 10). Sie plädiert für das Reisen, das der Verständigung dient: „Je mehr wir uns untereinander kennen lernen, desto sicherer werden wir uns verstehen, desto müheloser werden wir auch zusammen arbeiten. Jeder, der dahin arbeitet, daß der Arbeiter reist, fremdes Land und andere Menschen kennen lernt, trägt bei zur endlichen Befriedung der Erde“ (S.12). Auch Schulreisen und Schüler*innenaustausch spricht sie an und konstatiert, dass durch ebensolche Schulreisen „allerwertvollste Bildungsarbeit“ (S. 14) getan werde. Schließlich kommt sie noch einmal auf die finanziellen Hindernisse beim Reisen zu sprechen und plädiert zum einen für internationale Solidarität und gegenseitige Unterstützung im Sinne der schon angesprochenen konkreten gegenseitigen Hilfe. Darüber hinaus fordert sie auch gesellschaftliche und politische Anstrengungen, allen das Reisen zu ermöglichen. Es folgen die titelgebenden (un-)literarischen Streifzüge durch Europa, die uns auch heute noch durch ihren sozialistischen Blick auf die Dinge überraschen können.

Anna Siemsen: Daheim in Europa. Unliterarische Streifzüge. Urania Verlags-Gesellschaft. Jena 1928 Ausschnitt aus dem Originaltext