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Bildung am Gymnasium nach G8 – Programm einer Umgestaltung

Positionspapier der Landesfachgruppe Gymnasium der GEW Bayern

Dieses Positionspapier ist Ergebnis einer intensiven Debatte innerhalb der GEW Bayern zur Gestaltung des bayerischen Gymnasiums. Es wurde am 28.6.2014 von der Versammlung der Landesfachgruppe Gymnasium verabschiedet.

Rückmeldungen bitte ausschließlich an Andreas Hofmann, Vorsitzender der Landesfachgruppe Gymnasium: andreas.hofmann(at)gew-bayern(dot)de

 

Bildung am Gymnasium nach G8 – Programm einer Umgestaltung
Positionspapier der Landesfachgruppe Gymnasium der GEW Bayern

A) Analyse bestehender Probleme

Viele SchülerInnen vor allem der Mittelstufe bayerischer Gymnasien erleben Schule offensichtlich nicht als eine machbare Aufgabe. Ihre Schwierigkeiten stehen im Fokus der Diskussion um die Bildung an dieser Schulart. Um die Probleme zu beheben, sind zunächst ihre vielschichtigen Ursachen zu benennen:

1.     In der Grundschule werden derzeit die Weichen falsch gestellt. Durch den Fokus auf die für den Übertritt notwendigen Noten entsteht ein reines Lernen für die Prüfungen.  Die Kinder erwerben so Wissen nicht, um sich die Welt zu erschließen, sondern um Prüfungen zu bestehen. Ihre natürliche Neugier kann nicht dazu genutzt werden, das Lernen als Normalität des Heranwachsens im Schulalltag zu verankern. 
Im 21. Jahrhundert hat sich durch die verbreiteten digitalen Medien der Stellenwert weg von der Sprache hin zur Informationsvermittlung über Bilder verschoben.  Ein Ausgleich, etwa durch verstärkten Unterricht in Deutsch, findet nicht statt. Die Schwierigkeit vieler Grundschulkinder mit der deutschen Sprache setzt sich dann in allen anschließenden Schulformen fort.
Die bestehenden Übertrittsregelungen sind in ihrer Fixierung auf vermeintlich objektive Leistungsbewertung nicht dafür geeignet, die Kinder in ihrer natürlichen Lernbegierde zu fordern. Die Freigabe des Übertritts dürfte nicht – wie das Beispiel anderer Bundesländer zeigt – zu einer starken Zunahme der Anmeldungen am Gymnasium führen. Auch die Zahl der SchülerInnen, die trotz Zugangsrecht zum Gymnasium auf die Realschule wechseln, bestätigt das: 2013 wurde 48% der bayerischen RealschülerInnen der 5. Jahrgangsstufe in ihrem Übertrittszeugnis „gymnasiale Eignung“ attestiert.

2.     Die Einführung der 2. Fremdsprache bereits in der 6. Jahrgangsstufe führt oft zu einer Überforderung. Folglich konzentrieren sich die Schüler bei der häuslichen Vor- und Nachbereitung auf die neue Sprache – auf Kosten eines notwendigen kontinuierlichen Arbeitens insbesondere in Deutsch und Mathematik mit langfristigen negativen Folgen für die weiterführenden Jahrgangsstufen. Dazu kommt, dass gerade in diesen Fächern in der Unter- und Mittelstufe verstärkt auf Prüfungen (schulübergreifende und schulinterne Jahrgangsstufentests etc.) hin gelernt wird und weniger auf die geforderte Kompetenzorientierung hin. Deren Ziel sollte doch ein anwendbares Beherrschen von inhaltlichen Zusammenhängen sein, das erst entstehen kann, wenn längerfristig  und nachhaltig an aufeinander aufbauenden Themen und nicht von einem Test zum nächsten gearbeitet wird.

3.     In der Mittelstufe ist die Stundentafel überfrachtet. Das blockiert die Erfahrung des eigenen kontinuierlichen Lernfortschritts bei den Schülern, provoziert kurzfristiges Prüfungslernen und trägt zum Gefühl der Überforderung bei. Nach den Erkenntnissen der Neurophysiologie findet gerade in der Pubertät eine Neuorganisation des Gehirns statt. Die SchülerInnen brauchen dadurch genügend Zeit zum Lernen und Reifen.

4.     Eine Rhythmisierung des Unterrichtstages ist selbst im Ganztagsbetrieb aufgrund der hohen Stundenzahl und der vielen Fächer nur unzureichend möglich.

5.     Versuche, die Lernzeit durch Überspringen oder freiwilliges Wiederholen („Flexibilisierungsjahr“) für eine große Anzahl von Schülerinnen und Schülern individuell zu gestalten, müssen scheitern, da sie den persönlichen Reifeprozess während der Schulzeit und die sozialen Aspekte für Jugendliche und Kinder ausblenden. Während der Pubertät gewinnt die Peergruppe immer mehr an Bedeutung und Jugendliche haben das natürliche Bestreben, weiter zu ihrer Gruppe zu gehören. Das ist im Übrigen oft eine nicht unbedeutende Motivation, das Wiederholen einer Jahrgangsstufe zu vermeiden! 

6.     In der Oberstufe des achtjährigen Gymnasiums gewinnen zu wenige Jugendliche eine echte Hochschulreife. Die Universitäten konnten nicht im notwendigen Maße auf die veränderten Voraussetzungen der Studierenden reagieren. Oft fehlt den Erstsemestern die notwendige Selbstständigkeit und Reife. 

 

B) Grundlegende Forderungen an Bildung und Erziehung in Bayern

Damit das neue Gymnasium die gesellschaftlichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann, muss es stärker pädagogisch ausgerichtet werden. Dazu gehören die vermehrte Organisation als gebundene Ganztagsschule und die systematische Einrichtung von Schulsozialarbeit. Die momentan bestehenden Ganztagsschulen entsprechen nicht den räumlichen, personellen und pädagogischen Erfordernissen. Beratungslehrkräften und SchulpsychologInnen muss eine den Bedarf deckende Arbeitszeit gegeben werden. Darüber hinaus ist es auch dringend geboten, die Gymnasien für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Richtung Inklusion zu öffnen. Diese neuen Aufgaben des Gymnasiums erfordern auch ein Umdenken in der LehrerInnenausbildung und im Fort- und Weiterbildungsangebot für Lehrkräfte.

Das Gymnasium im 21. Jahrhundert sollte auch als demokratische Schule verfasst sein. Das gilt sowohl für die innere Struktur mit mehr Kompetenzen für das Kollegium und einer flachen Hierarchie ohne ausufernde Weisungsbefugnisse als auch für die äußere Struktur mit mehr Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler. Mit der Einführung eines Schulparlaments können ganz praktisch demokratische Prozesse gelernt werden und der Wert des Einsatzes für eine demokratische Verfassung in Deutschland erfahren werden.

Letztendliches Ziel aller Reformen, auch die des Gymnasiums, ist die inklusive Schule, die alle Kinder und Jugendlichen willkommen heißt, unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft und Bildung, Nationalität und Muttersprache, Hautfarbe, Religion, sozialen Fähigkeiten, Begabungen und besonderen Beeinträchtigungen. Dies bedeutet, alle Kinder besuchen bis zum Ende der Pflichtschulzeit, also in der Regel zehn Jahre lang, die gleiche Schule.

 

C) Konkrete Maßnahmen

 

Unterstufe: Pädagogisch gestalten – Grundlagen sichern

In der 5. und 6. Jahrgangsstufe wird eine Klassenleiterstunde eingeführt. Die Klassenleitung liegt bei der Lehrkraft für Deutsch, Mathematik oder der 1. Fremdsprache. Neben der notwendigen pädagogischen Arbeit mit der Klasse kann in dieser Stunde auch der jeweilige Fachunterricht intensiviert werden.  Mindestens eine weitere Intensivierungsstunde unterrichten die beiden Lehrkräfte der anderen Kernfächer im Team.

Die Einführung der 2. Fremdsprache wird in die 7. Jahrgangsstufe verlegt.
Die dadurch zur Verfügung stehende Zeit wird in den drei Kernfächern zu fünfstündigem Unterricht genutzt. Damit werden gesicherte Grundlagen für den erfolgreichen Besuch des Gymnasiums erreicht.

Zusätzlich zum regulären Sportunterricht werden in allen Unterstufenjahrgängen wöchentlich 2 Stunden Sport am Nachmittag angeboten. 

 

Mittelstufe: Wissen verankern – Interessen fördern

Die Zweigwahl (naturwissenschaftlich-technologisch, sprachlich, humanistisch etc.) erfolgt wie bisher für die 8. Jahrgangsstufe.

In den Jahrgangsstufen 9 und 10 wird der Unterricht auf 32 Wochenstunden reduziert.

Die vorhandenen individuellen Lernangebote werden ausgebaut und die bisherigen Intensivierungsstunden in dieses Modell integriert. Das Überspringen einer Jahrgangsstufe wird bei Bedarf im Rahmen der individuellen Förderung erleichtert.

Die politische Bildung wird durch Sozialkundeunterricht in der 9. und 10. Jahrgangsstufe  mit je 2 Wochenstunden in allen Zweigen gestärkt. 

 

Oberstufe:  Mit gymnasialer Bildung zur Hochschulreife

Bereits mit dem Abschluss der 10. Jahrgangsstufe wird die Profilbildung über die Zweigwahl beendet.  Im sprachlichen und humanistischen Zweig muss die 3. Fremdsprache einschließlich der 11. Jahrgangsstufe belegt werden.

Die für das Verständnis der Inhalte der Oberstufe notwendigen Grundlagen, die im G8 verloren gegangen sind, werden in der 11. Klasse wieder ins Zentrum gerückt. Fächerübergreifendes Arbeiten und die Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten stellen in dieser Jahrgangsstufe die Zusammenhänge her, die für die Hochschulreife notwendig sind. Hier hat auch ein längerfristiges Projekt im Sinne des bestehenden P-Seminars seinen Platz.

Die Berufsorientierung erfolgt in der 12. Jahrgangsstufe. In den beiden Abschlussjahren sind jeweils zwei Kurse mit erhöhtem Niveau mit einem angeschlossenen W-Seminar zu belegen. Dadurch wird die Gleichwertigkeit aller Fächer hergestellt und das Bildungsspektrum der Abiturienten wieder erweitert.

Eine Überarbeitung der Vorschriften über die verpflichtenden Abiturfächer folgt daraus zwingend. 

 

D) Fazit

Durch die neue Gestaltung der Unterstufe sind im ländlichen Bereich Möglichkeiten zur Kooperation von Gymnasium und Realschule angelegt. Die Erhaltung von Schulstandorten ist dadurch auch bei rückläufiger Schülerzahl leichter möglich.

Eine Schulzeitverkürzung kann schwerpunktmäßig in der 11. Jahrgangsstufe vorgenommen werden. Auslandsaufenthalte können so einfacher ermöglicht werden. Die vertiefte Allgemeinbildung wird durch fächerübergreifendes Arbeiten in der 11. Jahrgangsstufe gestärkt. Die Studierfähigkeit wird auch durch die Erfahrung eines vertieften Wissenserwerbs in den Jahrgangsstufen 12 und 13 erreicht.

Neben der Einführung einer geeigneten Struktur für die Gymnasien muss der Schulalltag sofort stärker an den Bedürfnissen der Lernenden und Lehrenden ausgerichtet werden. Das erfordert:

1.   die Umsetzung von pädagogischen Konzepten einschließlich der Ausgestaltung von Freizeitphasen unter Hinzuziehung sozialpädagogischer Fachkräfte;

2.   projektorientiertes Arbeiten und förderorientierte Leistungsbewertung, den Ausbau individueller Fördermaßnahmen, sowie die Abschaffung der Jahrgangsstufentests;

3.   Entlastungsstunden für Lehrende, für die Implementierung neuer Konzepte;

4.  die Reduzierung des verpflichtenden Anteils der Lerninhalte und damit die Möglichkeit der Schwerpunktsetzung;

5.  die Stärkung der musischen Fächer im Interesse einer umfassenden
Persönlichkeitsbildung.

Eine grundlegende Diskussion über die Bildungs- und Lerninhalte, die seit der Einführung der Kollegstufe an bayerischen Gymnasien 1977 nicht mehr stattgefunden hat, ist endlich zu führen.

Landesfachgruppe Gymnasium der GEW Bayern, 28.6.2014